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The Killing of a Sacred Deer

Das geordnete Leben einer Vorzeigefamilie gerät durch einen Fremden allmählich aus den Fugen. Einmal mehr erweist sich Yorgos Lanthimos als Meister der subtilen Stimmungen und des schleichenden Unbehagens.

Text: Till Brockmann / 08. Jan. 2018

Wenn man in einen Film von Yorgos Lanthimos geht, dem Autor der viel gepriesenen Dogtooth (2009) und The Lobster (2015), weiss man nicht genau, was einen erwartet. Oder vielleicht weiss man es doch: etwas Schräges, Unkonventionelles. Egal wie man zu seinen Filmen steht, zumindest gelingt es dem griechischen Regisseur durch seine formalen und stilistischen Eigenartigkeiten, ein seltsames Unbehagen, manchmal auch etwas Ratlosigkeit beim Publikum hervorzurufen. Es scheint offensichtlich, dass die allegorischen Anlagen seiner Erzählung und symbolhaften Bilder nach (Be-)Deutung schreien. Eine Anleitung, diese zu erarbeiten, oder offensichtliche Lösungsvorschläge bekommt man jedoch nur in Ansätzen. Und diese Herausforderung ist gut, denn nicht nur Mainstream-, sondern auch viele Arthousefilme kauen uns allzu gerne vor, was wir zu denken haben.

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Der von Colin Farrell gespielte Steven ist ein arrivierter Herzchirurg, der in seinem Auftreten und in seinem ganzen Wesen gezügelter nicht sein könnte. Ein gepflegter Vollbart, penible Kleidung, teure Chronometeruhr am Handgelenk, ein gemessener, aufrechter Schritt, tadellose Umgangsformen und eine ruhige Sprechweise sind nur einige Merkmale, die sein Erscheinungsbild ausmachen. Fast würde man ihm zutrauen, dass er bei Operationen auf Handschuhe verzichtet, denn an diesen Händen können gar keine Keime haften.
Auch seine Lebensumstände sind so gediegen, wie man sie erwartet. Steven wohnt in einer schönen Villa mit seiner schönen Frau Anna. Auch die vierzehnjährige Tochter Kim und der zwölfjährige Sohn Bob entsprechen perfekt bürgerlichen Idealvorstellungen. Also drängt sich nur noch eine Frage auf: Was ist hinter der Fassade? Was für Leichen liegen im Keller vergraben?

Seltsam sind tatsächlich Stevens Freundschaft und seine häufigen Treffen mit einem Sechzehnjährigen namens Martin (beunruhigend und hervorragend gespielt von Barry Keoghan). Man vermutet bald eine geheime uneheliche Vaterschaft oder aber eine pädophile Beziehung. Doch solche Vermutungen entkräften sich, als Steven Martin seiner Familie vorstellt und erklärt, dieser sei der Sohn eines verstorbenen Patienten. Erst als im Gegenzug auch Martin Steven zu sich nach Hause einlädt und ihm nahelegt, er solle doch eine Beziehung mit seiner Mutter anfangen, was Steven konsterniert ablehnt, und als bald darauf sein Sohn Bob unerklärliche Lähmungserscheinungen bekommt, nimmt das Drama seinen Lauf. Mehr soll hier nicht verraten werden.

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Dank Lanthimos’ eigensinniger Inszenierungsweise setzt indes das Unbehagen nicht erst mit diesen Schicksalsschlägen ein, sondern gibt sich bereits im ersten Drittel des Films, der noch weitgehend ohne dramaturgische Eklats auskommt, zu spüren. Das liegt unter anderem an einem Markenzeichen des Regisseurs: Er lässt seine Schauspieler alle Dialoge in einer distanzierten, fast mechanischen Weise sprechen. Das fällt besonders ins Gewicht, wenn die Dialoglinien zusätzlich gesellschaftlichen Konventionen und psychologischem Realismus zuwiderlaufen. So etwa, wenn Steven freizügig über die erste Periode seiner Tochter berichtet oder wenn Martin den Chirurgen bittet, er solle ihm doch mal seine Brusthaare zeigen. Intimität und Anonymität vermählen sich bei Lanthimos gerne zu einen befremdlichem Paradox.

Bei Filmen, die weniger von narrativer Schlüssigkeit als vielmehr von Stimmungen und atmosphärischer Verdichtung leben, kommt allen formalen Aspekten ein besonderes Gewicht zu. Und tatsächlich erweist sich Lanthimos auch bei The ­Killing of a Sacred Deer als selbstbewusster und rigoroser Stilist – manchmal läuft sein übersteigertes Formbewusstsein sogar Gefahr, die Geschichte zu erdrücken. Die Protagonisten werden wie Schachfiguren in einer von Weitwinkeln verzerrten Architektur platziert. Langsame, lineare Zooms und Kamerafahrten, unübliche Ansichten aus der Vogelperspektive halten sie in diesen pastellfarbenen, klinisch sauberen Räumen zusätzlich gefangen. Wenn diese Bildsprache an Stanley Kubrick gemahnt, dann ist das bestimmt kein Zufall. Man erinnert sich zuweilen an die langen mysteriösen Gänge des Hotels in The Shining, manche sterile Innenräume wirken wie aus 2001: A Space Odyssey, und wann immer Nicole Kidman als strenge, aber auch unsichere bürgerliche Ehefrau auftaucht, drängt sich der Vergleich mit Eyes Wide Shut geradezu auf.

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Auch musikalisch gibt es Parallelen zu Kubrick: Der Film beginnt mit einer längeren Schwarzblende, zu der klassische Musik ertönt – das ist schon fast als Hommage an den amerikanischen Meister zu werten. Auch sonst ist die Musik im Film über weite Strecken auffällig, kontrapunktisch, zuweilen fast aufdringlich, sodass sie uns alarmiert und eine gewisse Distanz zum Geschehen schafft. Ebenso bedient sie den übersinnlichen Horror, der den Film zunehmend in Beschlag nimmt.

In Cannes gewann Yorgos Lanthimos zusammen mit seinem langjährigen Koautor Efthymis ­Filippou die Auszeichnung für das beste Drehbuch. Ob grade in diesem Bereich The Killing of a Sacred Deer seine grösste Stärke ausspielt, sei dahingestellt. Dennoch zieht die irreale, kunstvolle Künstlichkeit der Inszenierung den Zuschauer zweifellos in den Bann. Und dass viele Fragen offenbleiben, gehört bei Lanthimos einfach dazu.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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