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The Third Murder/Sandome no satsujin

Ein scheinbar bereits gelöster Mordfall wird im Laufe seiner Untersuchung immer uneindeutiger. Die Maschinerie der Justiz entlarvt sich als absurdes Theater.

Text: Dominic Schmid / 21. Mai 2018

Drei Morde stehen im Zentrum von Hirokazu Kore-edas neuem Film – einer in der Vergangenheit, einer in der Gegenwart und einer in der Zukunft. Bei keinem wird die Identität des Täters bezweifelt – oder zumindest zu Beginn nicht. Kore-eda, der in den letzten Jahren ausserhalb Japans vor allem durch eine Reihe von genau beobachteten, intelligenten und berührenden Familiendramen bekannt geworden ist, hat mit The Third Murder weder ins Thrillergenre gewechselt noch einen explizit politischen Film gedreht, wie man beim Thema Todesstrafe annehmen könnte. Denn obwohl es sich dabei um ein genau beobachtetes Justizdrama handelt, in dem die Todesstrafe einen möglichen Ausgang bildet, sind Kore-edas Absichten weder anklagender noch politischer, sondern eher philosophischer Natur. Er ist an einer Verschiebung des Blickwinkels auf die Gesellschaft interessiert: von der konkreten Ebene der Familie auf jene des abstrakten Justizsystems. Die Fragen sind im Grunde aber dieselben geblieben. Dass eine explizite politische Aussage fehlt – mit Japan nebst den USA als mittlerweile einzigem fortschrittlich-demokratischem Land, das immer noch die Todesstrafe kennt – sollte deshalb nur jene überraschen, denen Kore-edas früheres Werk nicht bekannt ist. Der Filmtitel, der die Todesstrafe unmissverständlich als Mord bezeichnet, ist insofern etwas irreführend, als The Third Murder viel mehr mit Akira Kurosawas Rashōmon gemeinsam hat, insbesondere mit dessen Thesen über die Unmöglichkeit, zu einer letzten, gültigen Wahrheit vorzudringen, als etwa mit Krzysztof Kieślowskis Ein kurzer Film über das Töten. Kieślowski setzt den Mord an einem Taxifahrer und jenen, den der Staat am Mörder begeht, mehr oder weniger gleich, und sein Film von 1988 gilt auch heute noch als eine der wirksamsten filmischen Anklagen gegen die Todesstrafe.

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Kore-eda geht es nicht um den dritten, von der Justiz vollzogenen Mord, sondern um den zweiten, den wir gleich in der allerersten Szene des Films sehen. Der Fall scheint klar zu sein; der Mörder ist geständig. Fabrikarbeiter Misumi soll seinen ehemaligen Chef an einem Flussufer erst mit einer Metallstange erschlagen, dann ausgeraubt und schliesslich verbrannt haben. Die Brieftasche, die sich bei der Verhaftung in seinem Besitz befand, riecht noch nach Benzin. So will die Gruppe von Anwälten gar nicht Misumis Unschuld beweisen – dieser ist ja geständig –, sondern bloss versuchen nachzuweisen, dass der Diebstahl nicht Teil des Mordmotivs war. Dieser würde einen niederen Beweggrund darstellen und zusammen mit schon einem Mord in Misumis Strafregister mit ziemlicher Sicherheit das Todesurteil bedeuten.

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Der Mörder gibt sich kooperativ und ändert seine Aussage im Sinne der Strategie seiner Anwälte ab, um dann aber plötzlich auch diesen gegenüber immer neue und widersprüchliche Versionen des Tathergangs und der Motivlage zu schildern. Was vorgeblich als Suche nach einer objektiven Wahrheit begonnen hatte, verkommt mehr und mehr zu einem für den besonders engagierten Anwalt Shigemori wie auch für die Zuschauer_innen undurchdringlichen Geflecht aus Habgier, Missbrauch und Rache, in dessen Zentrum Misumi steht, den das Ganze augenscheinlich nicht gross zu kümmern scheint. In intensiven, wenn auch höflichen Zwiegesprächen mit dem zunehmend verwirrten Shigemori liefert Misumi immer neue Varianten der Geschichte. Und als er gegen Ende des Prozesses sogar plausibel zu bestreiten beginnt, den Mord überhaupt begangen zu haben, ist die japanische Justizmaschinerie schon längst als von Effizienz und Aussenwirkung bestimmtes Theater entlarvt, dem mit Nachdruck die Kompetenz abgesprochen wird, die objektive Wahrheit (wenn es denn so etwas überhaupt gäbe) erkennen zu können, geschweige denn ein Todesurteil aussprechen zu dürfen.

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Obwohl The Third Murder durchaus als Ermittlungsfilm funktioniert, interessiert sich Kore-eda hauptsächlich für die kleinen Details der zwischenmenschlichen Kommunikation – wobei diese Details hier im Gegensatz zu seinen Familienfilmen über Leben und Tod entscheiden können. Etwa, wenn die Anwälte darüber debattieren, ob man zur Vernehmung von Misumis Tochter als eventueller Charakterzeugin nach Hokkaido im Norden Japans fliegen soll, obwohl es da grässlich kalt sei, das Essen schlecht und nicht einmal die Spesen zurückerstattet würden. Mit der Beiläufigkeit und dem Tonfall einer Pausendiskussion wird der Prozessablauf von den zufälligen Vorlieben und Motivationen der Beteiligten bestimmt. Ein Prozess hat einem bestimmten Muster zu folgen, bei dem weder lückenlose Aufklärung noch Gerechtigkeit unabdingbare Elemente darstellen. So läuft Shigemori, als Einziger von einem aufrichtigen Erkenntnisdrang getrieben, nicht nur in den Konfrontationen mit seinen Mitarbeiter_innen, sondern – in den besten Szenen des Films – auch mit Misumi immer wieder ins Leere, wenn dieser einmal mehr seine Geschichte ändert oder dem Anwalt gar zu einer besonders originellen und schlüssigen Deutung der Ereignisse gratuliert: «Eine sehr schöne Geschichte.»

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Das Problem ist gar nicht, so könnte man den Film auch deuten, dass es keine objektive Wahrheit mehr gibt. Irgendwo, ganz am Ursprung, mag es eine solche vielleicht tatsächlich einmal gegeben haben. Doch die vielen Gräben, die sich zwischen den Weisen auftun, wie das Ereignis erlebt wurde und wie man sich daran erinnert, wie man es kommuniziert und es schliesslich versteht, sind zu gross, als dass noch irgendein Erkennen möglich wäre. Gekoppelt an die Tatsache, dass ohnehin alle nur mit der Konformität ihrer eigenen Interpretation beschäftigt sind, ergibt dies ein buchstäblich düsteres Weltbild, das Kore-eda hier entwirft. So liefert The Third Murder im Endeffekt doch noch ein überzeugendes Argument gegen die Todesstrafe.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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