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A l'école des philosophes

Text: Doris Senn / 28. Sep. 2018

Kinder können einen ganz schön fordern. Umso mehr, wenn die Kleinen nicht sind wie die andern – etwa wenn ihre Entwicklung nicht gradlinig verläuft oder Defizite auftauchen. Zum Beispiel Albiana: ein lebhaftes Mädchen mit unbändiger Energie, das kaum ruhig zu sitzen vermag, überall und an allem hochklettert, trotz ihren kleinen Ärmchen kräftig auf andere einschlägt und gar beisst. Ihr erstes «Opfer» ist die Mutter, dann die jüngere Schwester … Oder Louis, der sich beide Hände am Ofen verbrennt und nach der Heilung nicht mehr derselbe ist: verängstigt, in sich zurückgezogen, unzugänglich. Die Ärzte diagnostizieren Autismus, während die Eltern nach wie vor auf eine wundersame Besserung hoffen. Oder Kenza, die apathisch wirkt, den Kopf auf die Seite gelegt, und für alles auf Hilfe angewiesen ist …

Diese drei, zusammen mit Léon und Chloé, stehen vor ihrem allerersten Schultag, den sie in der Sonderschule an der Rue des philosophes – im Volksmund «École des philosophes» – in Yverdon antreten. Fernand Melgar, ein Meister des Direct Cinema, begleitet sie bei ihrem Schritt aus dem familiären Cocon in die Welt hinaus: von der Einschulung über die ersten Tage mit den vielen kleinen Ritualen, die den Alltag prägen, über ein ganzes Schuljahr lang. Melgar fokussiert dabei wie immer nie nur das Ensemble der «Betroffenen», sondern immer auch den sozialen Kontext – das heisst hier: die Eltern, den Schulleiter, die Betreuerinnen und damit ihr Engagement, ihre Hartnäckigkeit, ihre Nöte, aber auch ihre Zuversicht. Er schafft so Verständnis für alle Seiten – und vertraut darauf, dass wir aus dem Film gehen mit einer Innensicht und einem Wissen, das die Fragen, die das Thema unweigerlich auslöst, in einem anderen Licht erscheinen lässt.

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Menschen in schwierigen Lebenssituationen präsentierte der Westschweizer Regisseur in den meisten seiner preisgekrönten Vorgängerfilme: so in [art:la-forteresse:La forteresse] (2008) über eine Schweizer Empfangsstelle für Flüchtlinge, in [art:vol-special:Vol spécial] (2011) über ein Ausschaffungszentrum in Genf oder in L'[art:labri:abri] (2014) über eine Notschlafstelle in Lausanne. In seinen Werken verhandelt Melgar immer wieder Randzonen, die unsere Gesellschaft gern verdrängt, ebenso wie die damit verbundenen brisanten Fragen. Sei es im Umgang mit Flüchtlingen oder Randständigen, aber auch wenn es um die Beziehung zum Tod geht (Exit – Le droit de mourir, 2005) oder wie hier um die Frage nach «wertem» Leben, nach unserem Umgang mit und unserer Akzeptanz von Behinderung.

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Ohne Kommentar oder Fragen seitens des Autors vermag der Film aus seiner beobachtenden Warte doch punktuell in die Tiefe vorzustossen: etwa wenn die muslimischen Eltern von Albiana erzählen, dass ihr Kind für sie normal sei – auch wenn sie mit den Kräften längst an ihre Grenzen stossen und ihr jüngeres Kind zu dessen «Schutz» fremdbetreuen lassen müssen. Doch erahnt man im Lauf des Films, dass hinter ihrer Einschätzung nicht nur vorurteilslose Akzeptanz, sondern auch die Angst vor einer möglichen Ächtung seitens des sozialen Umfelds stecken mögen. Oder die Mutter von Chloé, die für ihr Kind, das an einer seltenen Krankheit leidet, ebenfalls ihre ganze Kraft opfert und schliesslich gar ihre Beziehung …

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Aus all den Geschichten um die kleinen Persönlichkeiten kreiert Karine Sudan, die bislang viele von Melgars Filmen editierte, einen einfühlsamen Spannungsbogen, der auch kleine «Flashbacks» mit den Eltern einschliesst ebenso wie Feedbackrunden seitens der Betreuerinnen, wo sie von ihren Problemen erzählen können, ihren Versuchen zur Kommunikation mit den Kindern, die oft ins Leere laufen, aber auch von ihrer Konfrontation mit den Erwartungen der Eltern, die nicht selten Mühe haben loszulassen. So verschafft À l'école des philosophes einen faszinierenden Einblick in einen trotz vielen Einschränkungen bravourös gemeisterten Alltag von allen Beteiligten, denen man nicht umhinkommt, immense Bewunderung zu zollen. Der Film wird aber auch zum Tagebuch der unverhofften Mikrofortschritte: etwa wenn Kenza, die im Lauf der Zeit den Blick öffnet und sachte, aber doch mit der Aussenwelt zu kommunizieren beginnt. Ebenso Léon, der es tatsächlich schafft, im Lauf der Zeit ein paar wenige Worte zu sagen, oder Chloé, die sich nicht mehr ausschliesslich auf allen vieren bewegt, sondern aufrecht zu stehen vermag. Alles Dinge, die man ein Jahr zuvor noch für unmöglich gehalten hätte.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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