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Herde 1

Las Herederas

Die Villa leert sich, aus der Besitzerin wird eine Bedienstete. Subtil und ganz auf die Frauenfiguren konzentriert erzählt Marcelo Martinessi die Geschichte eines sozialen Abstiegs, die auch als Metapher für ein ganzes Land fungiert.

Text: Tereza Fischer / 02. Jan. 2019

Las Herederas (Die Erbinnen) heisst der Debütspielfilm des paraguayischen Regisseurs Marcelo Martinessi. Als der Film an der diesjährigen Berlinale lief, sorgte die nicht enden wollende Aufzählung von Produktionsfirmen und Entwicklungsprogrammen im Vorspann für Gelächter. Paraguay ist ein eher kleines und junges Filmland – erst nach 1989, nach dem Ende der Militärdiktatur, wurde die Medienzensur aufgehoben, sodass die Geschichte des Landes auch filmisch aufgearbeitet werden konnte. Für die Realisierung dieses feinsinnigen, melancholischen Films war darum die Beteiligung vieler ausländischer Geldgeber und Förder­institutionen notwendig. Martinessi ist trotz der «vielen Köche» ein Kleinod von einem subtilen und empathischen Frauenfilm geglückt.

Herde 3

Chiquita und Chela leben seit über dreissig Jahren als Paar in Paraguays Hauptstadt Asunción; ihre Liebe verheimlichen sie jedoch immer noch vor ihren Freundinnen. Einst gehörten sie der besseren Gesellschaft an und lebten lange in einer schönen Villa und von ihrem Erbe. Doch nun ist ihnen das Geld ausgegangen. Während die dominante Chiquita auf illegale Weise Geld beschafft und dafür ins Gefängnis muss, sorgt sich Chela um die Zukunft und kommt morgens vor lauter Sorgen und Kummer kaum aus dem Bett. Durch den Türspalt beobachtet sie die feinen Damen, die sich in ihrem Wohnzimmer nach Schnäppchen umsehen, sich ihr Hab und Gut unter die manikürten Nägel reissen. Am Ende werden die teuren Möbel, das Klavier und das Tafelsilber verschwunden sein, in der Mitte des leeren Raums wird nur noch behelfsmässig ein Gartentisch stehen und an den Wänden lediglich die Schatten von abgehängten Gemälden prangen. Einzig ihre Getränke und Medikamente bekommt Chela noch lange von ihrer Haushälterin auf dem Silbertablett serviert.

Das Gefühl der Ohnmacht, der Melancholie und der Enge, die Chela ob dieses sozialen Abstiegs befällt, vermittelt die Kameraarbeit von Luis Armando Artega eindrücklich: Der Weitblick fehlt hier beinahe vollständig, vielmehr ist nicht nur Chelas subjektiver Blick eingeschränkt, sondern auch unser Blick durch Wände und Türen sowie geringe Schärfentiefe begrenzt. Im Haus herrschen Dunkelheit und Stille, die Umgebung ist beinahe ausgeblendet, so nah bleibt die Kamera an ihrer Protagonistin dran. Nur im Gefängnishof, wo Chela ihre Partnerin besucht, weitet sich der Blick auf eine bunte, laute Gesellschaft. Chiquita scheint sich da wohlzufühlen. In dieser durchmischten Frauengesellschaft, in der jede ihr besonderes Schicksal zu erzählen hat. Nicht nur da, sondern auch ausserhalb der Gefängnismauern fehlen in Las Herederas die Männer. Sie sind an den Bildrand gedrängt. Und die Hintergrundunschärfe der Kameraeinstellungen, die sie nur schemenhaft zeigt, betont damit, wie unbedeutend sie für das Leben dieser Frauen sind, auf die Martinessi ganz fokussiert.

Herde 2

Ohne Chiquita muss sich Chela, die grandios mit traurigem Blick von Ana Brun verkörpert wird, selber durchschlagen. Als ihr eine reiche Freundin vorschlägt, sie zu einem Kartenspiel mit den anderen feinen Damen zu fahren, entdeckt Chela nicht nur eine willkommene Einnahmequelle, sondern auch ein unerwartetes Gefühl der Freiheit, trotz der Degradierung zu einer Bediensteten. Da sitzt sie im Gang und wartet auf ihre Auftraggeberin, während draussen der alte dunkel­grüne Mercedes steht, der doch einst ihrem Vater gehört hatte. Der Wagen zeugt genauso von den guten alten Zeiten des Wohlstands wie die Tatsache, dass Chela gar keinen Führerschein besitzt – vermutlich wurde sie früher chauffiert und brauchte keinen. All dies sind subtile Hinweise auf die Veränderung des Landes, die historischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge schwingen als Ansammlung von kleinen Details mit, drängen jedoch nie explizit in den Vordergrund.

Herde 5

Den sozialen Abstieg, die Demütigung, als Taxifahrerin arbeiten zu müssen – überhaupt das erste Mal in ihrem Leben zu arbeiten –, erträgt Chela stoisch, dank der kleinen Freiheiten, die sie bei ihren kleinen Ausflügen entdeckt. Als sie die lebenshungrige, selbstbewusste Angy trifft, entwickelt sie gar erotische Gefühle, wie sie sie schon lange nicht mehr für möglich gehalten hatte. Obwohl sich ihr Objekt der Begierde als flüchtiger Traum entpuppen wird, merkt sie, dass ihr Leben einem Gefängnis gleicht, aus dem sie herrausmuss.

Herde 4

Im Gegensatz zu seiner Protagonistin, der der Regisseur am Ende des Films eine Perspektive zugesteht und uns Zuschauer_innen zumindest hoffen lässt, dass sie sich tatsächlich befreien kann, hegt Martinness wenig Hoffnung für sein Land. Wie er in einem Interview sagt, kann er dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem korrupten System seines Landes nicht wirklich entkommen: «… das Gefühl, in einem riesigen Gefängnis zu leben, bleibt unverändert».

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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