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Gräns

Ali Abbasi ist mit Gräns eine verwegene Mischung aus düsterem Krimi, ungewöhnlicher Romanze und schwedischer Mythologie gelungen. Er überschreitet damit wie seine Protagonistin in vieler Hinsicht eine Grenze. Der Film gewährt uns einen ganz eigentümlichen, fragenden Blick auf die Welt und das, was möglich wäre. In Cannes gewann er den ersten Preis in einer Sektion, die deshalb treffender nicht heissen könnte: «Un Certain Regard».

Text: Till Brockmann / 25. Feb. 2019

Ein Teil des visuellen Faszinosums des Kinos besteht zweifelsohne darin, dass wir gutaussehende Menschen anschauen können. Und das in einem Grossformat, einer konzentrierten Form des Kamerablicks (den wir uns als Zuschauer_innen aneignen) und in einer Dauer, die im richtigen Leben gar nicht möglich oder peinlich wäre. Nicht zufällig entsprachen die meisten zugkräftigen Stars der Filmgeschichte immer auch Schönheitsidealen ihrer Zeit. Natürlich sind nicht alle Figuren im Film schön: Neben den hässlichen, anfänglich nicht begehrten Mädchen in Collegefilmen, die am Ende allerdings ihre entsetzliche Brille absetzen, die Haare lösen und sich dann (nicht) überraschend als wahrhaftig hübsch entpuppen, gibt es in sozialrealistischeren Genres und vor allem im Bereich der Nebenfiguren auch Menschen, die man als normalaussehend oder gar unattraktiv bezeichnen würde.

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Tina, die Hauptfigur im schwedischen Gräns (Grenze), ist in dieser Hinsicht wahrlich aussergewöhnlich – und eine Herausforderung: Sie hat zottelige Haare, ein wulstiges Stirnbein, das über den kleinen, tiefsitzenden Augen hervorsteht, eine von Falten durchzogene unreine Haut und einen Mund, der meistens halb offen steht und so nur schlecht das faulig wirkende Gebiss versteckt. Kurz, sie ist von fesselnder Hässlichkeit. So etwas kennt man sonst nur aus Horror- oder Fantasyfilmen oder vielleicht aus Jean-Jacques Annauds Neandertalerepos La guerre du feu (1981). Doch die Figur Tina ist ganz in einer plausiblen Gegen- wart verortet: Sie arbeitet als Zollbeamtin in einem schwedischen Hafen, wo sie aus Dänemark ankommende Passagiere kontrolliert. Die Insistenz und die Porennähe, mit der die Kamera anfänglich an ihrem bizarren und unförmigen Antlitz haftet, treiben uns in ein gewisses Unbehagen – nicht nur in ein ästhetisches, auch in ein moralisches. Handelt es sich vielleicht um eine entstellende Krankheit, um einen genetischen Defekt? Ist das Erschaudern vor der Normabweichung nicht politisch höchst unkorrekt? Sollten wir Tina nicht gerade wegen ihrer Hässlichkeit von vornherein viel Sympathie und Empathie entgegenbringen?

Der Film macht uns das jedoch bewusst nicht leicht. Denn Tina ist eine auch sonst nicht gerade kommunikative und einnehmende Figur und ihre besonderen Fähigkeiten sind ebenfalls eher verstörend: Sie beschnuppert auf animalische Weise das Gepäck und sogar die Reisenden selber. Nicht nur Schmuggelware spürt sie damit auf, sie kann sogar Schuldgefühle oder böse Absichten von Menschen riechen. Mit ihren Kollegen redet sie wenig, doch immerhin merkt man, dass diese sie respektieren und sei es nur wegen ihrer Treffsicherheit. Privat wohnt sie in einem abgeschiedenen Holzhaus mitten im Wald, zusammen mit einem Mann, der Kampfhunde züchtet und sie nach Strich und Faden ausnützt. Obwohl es nicht ihr Partner ist, duldet sie ihn wohl, um nicht alleine zu sein. Ab und zu besucht sie auch noch ihren greisen an Alzheimer erkrankten Vater in einem Heim. Befreit wirkt Tina am ehesten, wenn sie alleine in der Natur spazieren geht, und mit Elchen oder Füchsen scheint sie sich im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen.

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Nicht eine eigentliche Wende, aber graduierlich etwas Licht in diese rätselhafte Geschichte bringt die Begegnung mit Vore, dessen Physiognomie stark derjenigen Tinas gleicht. Der Mann taucht mehrmals an der Grenze auf, und sie verdächtigt ihn jedes Mal, etwas Illegales hereinzuschmuggeln. Doch sie liegt erstmals falsch und findet nichts. Vore ist noch mehr als sie selbst ein verschlossener Charakter, der sich von anderen Menschen fernhält. Tina entschuldigt sich bei Vore, lässt ihn, der wenig Geld hat, sogar kostenlos in ihrer Gästewohnung wohnen und sucht immer mehr seine Nähe. Durch Vore kommt Tina ihrer wahren Identität immer näher, sie fängt an, ihre seltsame Körperlichkeit, ihre Sexualität sowie Ereignisse aus ihrer Kindheit neu einzuordnen. Zugleich bringt Vore sie aber auch in grosse Konflikte, da er jegliche moralische Prinzipien, die sie selbst vertritt, verachtet und womöglich auch an Verbrechen beteiligt ist. Mehr möchten wir hier aber nicht verraten. Nur soviel: Ja, die Identität, zu der sich Tina ein Tor öffnet, ist wie zu erwarten nicht menschlich, und nein, sie ist kein Werwolf.

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Eva Melander als Tina und Eero Milonoff als Vore spielen ihre Rolle überzeugend und beängstigend, was darstellerisch sicherlich nicht einfach war unter einer üppigen Schicht prosthetischen Make-ups, das jeden Tag in mehreren Stunden Arbeit vor dem Dreh angebracht wurde. Sowieso legt Regisseur und Drehbuchautor Ali Abbasi mit Gräns einen Film vor, der in vieler Hinsicht überrascht und den Konventionen trotzt. Zunächst ist da die Unmöglichkeit, ihn in ein Genre einzuordnen: Er nimmt gewiss Elemente von Fantasy- und Märchenfilmen auf, die ihrerseits in einer skandinavischen Mythologie ihren Nährboden finden, bleibt dabei jedoch visuell eher nüchtern und verzichtet auf grosse Effekte aus der Digitalkanone. Ausserdem bewahrt der Film bis zum Schluss eine Glaubhaftigkeit der Figuren, auch in ihrer psychologischen Authentizität, die man sonst nur in Sozialdramen findet. Ein in der angesichts heutiger naiver Beschönigungen und Beschwörungen der Natur wirklich nicht genug zu lobender Vorzug ist auch, dass der Film keine plakative Gegenüberstellung eines verklärt-esoterischen Naturbildes und eines korrupten, dekadenten Gesellschaftsbilds pflegt. Im Gegenteil, es geht ständig um Grenzen – wie es schon im Titel anklingt –, die schwer zu ziehen sind, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. Bis zum Schluss triumphieren Mehrdeutigkeit, Skepsis und offene Frage. Dazu passt auch, dass das oben beschriebene Unbehagen an Tina und all die moralischen Zwickmühlen, in die sie uns hineinzieht, nicht verschwinden. Es ist nicht diese Art von Film, die uns das Fremde verstehen, akzeptieren und lieben lernen lässt, damit wir es in uns warmherzig aus dem Kino tragen. Das ist zu einfach und oft geheuchelt.

Der Film gewährt uns einen ganz eigentümlichen, fragenden Blick auf die Welt und das, was möglich wäre. Er gewann in Cannes den ersten Preis in einer Sektion, die deshalb treffender nicht heissen könnte: «Un Certain Regard».

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