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Closing Time

Die Welt wird erst sichtbar im Blick aufs Detail. Nicole Vögele begibt sich auf die Spuren Tsai Ming-liangs. Ihr Dokumentarfilm über das gegenwärtige Taiwan sucht nach dem Punkt, an dem die Zeichen aufhören zu arbeiten.

Text: Philipp Stadelmaier / 18. Mär. 2019

Alles beginnt in der Dunkelheit, mit einer Aufnahme des Meeres in der Morgendämmerung. Sie dauert lange und lässt erkennen, dass die Dinge hier nicht energisch in die Sichtbarkeit drängen, sondern geduldig darauf warten, besser gesehen werden zu können. Am Horizont blinken Lichter – Schiffe vielleicht oder das andere Ufer. Möglicherweise wird mit der Zeit der Himmel heller, aber das kann ein Eindruck sein, der täuscht. Die nächsten Einstellungen setzen dieses tastende Anpassen der Wahrnehmung an die Lichtverhältnisse fort. Da sind wieder Lichter, näher diesmal, die sich aus dem bläulichen Hintergrund abheben und auf uns zukommen – oder auch nicht. Lampen der Männer vielleicht, die man gerade noch am Ufer ausgespäht hat.

Ein guter Film, das fällt einem am Anfang von Nicole Vögeles Closing Time wieder ein, ist ein Film, der zeigt, dass es etwas zu entdecken gibt, was nicht gesehen worden wäre, hätte sich nicht jemand die Mühe gemacht, irgendwo eine Kamera aufzustellen. Im Fall von Closing Time ist dieses Irgendwo Taiwans Hauptstadt Taipeh.

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Dass es darum geht, etwas ans Licht zu bringen, hat damit zu tun, dass das Hauptthema die Nacht ist, die der Film über die meiste Zeit hinweg nicht verlässt, und aus der heraus die Dinge überhaupt erst entdeckt werden können. Vögele filmt die Nacht von Taipeh, und sie filmt die Menschen in der Nacht, Menschen, die nachts nicht schlafen, sondern arbeiten. Im Mittelpunkt steht ein Paar, das einen Imbiss betreibt, der erst am frühen Morgen schliesst und diejenigen versorgt, die bis dahin ihren diversen beruflichen oder sonstigen Aktivitäten nachgehen, die Nacht zum Tag machen. Davon gibt es in Taipeh viele.

Die Frau steht hinter der Auslage und stellt den Gästen die Gerichte zusammen: Haferbrei oder Reis, Hackfleisch oder Gemüse? Der Mann ist in der Küche, schnippelt und raspelt unermüdlich, schwenkt den Wok. Müde, erwähnt er gelegentlich, ist er schon manchmal; das Bedürfnis nach Ruhe kann er bei anderen verstehen, auch wenn er ihm selbst nicht nachgibt. Die Nacht und die Erschöpfung bilden in Closing Time einen Zustand, der niemals endet – wenn morgens der Eisenladen vor der Imbissbude heruntergelassen wird, dann nur, um bald wieder hochgezogen zu werden.

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Auf diese Weise entsteht, auch dank der oftmals langen Einstellungen, ein Film, der sich Zeit nimmt, um in die ewige Gegenwart dieser Nachtmenschen einzutauchen, in eine Gegenwart, in der die Sperrstunde, die der Titel verspricht, nie kommt. Filmtitel wie They Live by Night von Nicholas Ray oder von They Drive by Night von Raoul Walsh fallen einem ein, aber Vögeles Film steht geografisch und qua seiner Dehnung der Zeit in einer anderen filmischen Tradition als der des klassischen amerikanischen Erzählkinos: nämlich in jener des chinesisch-malaysischen Kinomeisters Tsai Ming-liang, der einen Grossteil seines Werks in Taiwan beziehungsweise in Taipeh geschaffen und die Langsamkeit des Vergehens der Zeit zur künstlerischen Signatur und zum Modus der emotionalen Erfahrungen seiner Figuren erhoben hat.

Bei Vögele wird diese lange Ausdehnung von Zeit skandiert durch unzählige Kleinigkeiten. Die Kamera bleibt neugierig und stets an etwas Neuem hängen. Sie gewährt Einblicke in ein Kampfsportstudio, wirft einen Blick auf eine Yogagruppe in einem Park oder auf Karaoke singende Senior_innen. Sie verharrt vor Muscheln, die in einer Kiste schwimmen und kleine Fontänen in die Luft spritzen, oder ist auf die Ladefläche eines Lastwagens gesprungen, der eine Fuhre Schweinehälften durch die Stadt kutschiert. Manche dieser Details haben die Gestalt von Zeichen: auf der Haut eines Mannes, der sich tätowieren lässt, auf einer Fussgängerampel, auf der ein eilig gehendes, grün leuchtendes Männchen zu sehen ist, auf den leeren Strassen, auf denen die auf den Asphalt aufgetragenen weissen Pfeile in verschiedene Richtungen zeigen. Worauf verweisen all diese Dinge? Auf nichts Geheimnisvolles, sie blinken einfach nur in der Nacht. Einen Anspruch auf einen tieferen, verborgenen Sinn erheben sie nicht. Man könnte sagen: Es handelt sich um Zeichen, die kurz aufgehört haben zu arbeiten, sich einen Moment der Ruhe gönnen. Ebenso funktionieren sie im Film wie Ruhepausen, wie kurze Unterbrechungen im steten Fluss der Zeit und der Arbeit. Um den Imbissbetreiber_innen und den anderen nachtaktiven Protagonist_innen des Films, die in diesen Momenten nicht zu sehen sind, einen Augenblick der Entspannung zu gewähren.

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Aber wenn in diesen Momenten die Arbeit auch unterbrochen wird, dann wird sie gleichzeitig umge-leitet und weitergeführt. Nach wie vor ist es die Kamera, die weiter aufnimmt und weiterarbeitet, auch wenn es sonst niemand mehr tut. Eine der Arbeiter_innen der Nacht ist Vögele selbst, und vielleicht arbeitet sie am härtesten von allen. Das Wesen dieser Arbeit ist die Selbstreflexion. Vögele filmt das Restaurant und andere Orte oft wie einen Kasten im Zentrum des Bilds, als würde sie die Ränder der Einstellung reproduzieren. Aber nicht nur das Kino, auch andere Medien sind präsent: Ein Computerbildschirm drängt ebenso ins Bild wie ein dauerlaufender Fernsehapparat. Der Film porträtiert eine digitale Welt der allgegenwärtigen Bilder, in der das Kino nur noch eine von vielen Formen des Bewegtbilds ist, seine Sichtbarkeit sich relativiert. Das Kino ist in sein nächtliches Zeitalter eingetreten. Folgt man Vögele, dann unterscheidet es sich von diesen anderen Formaten dadurch, dass es über den eigenen Zustand reflektiert. Es lebt längst in der Nacht, aber es arbeitet unermüdlich weiter in ihr, während die anderen Medien vor sich hindämmern, sich der bewusstlosen Diffusion von Bildern hingeben.

Einmal ragt ein Aquarium in eine Einstellung hinein, in der ein Fernseher läuft, hinter den Glasscheiben flutschen rote Fische hin und her. Die Fische sind die stummen Konsumenten solcher schnell vergessener Bilder. Das Kino kann mehr. Vögele filmt anfangs eine dampfende, milchige Suppe, in der von unten weisse Brocken an die Oberfläche wirbeln, und sie filmt sie von oben, ebenso wie Jean-Luc Godard in Deux ou trois choses que je sais d’elle den sich drehenden Kaffee in einer Tasse gefilmt hatte, als hätte er es mit der Milchstrasse zu tun. Vögele hat einen ähnlich universalen Anspruch wie ihr Schweizer Landsmann. Der Wirbel in der Suppe wird in diesem Film, der am Wasser beginnt und endet, bald zum Taifun, der über Taiwan hinwegzieht. Gerade die meteorologischen Umstände enthüllen in Closing Time eine ästhetische Kondition des heutigen Kinos: Die Welt verschwimmt mit den Bildern, die heutzutage ebenso unermüdlich in ihr zirkulieren wie die nimmermüden Menschen in der Nacht von Taipeh.

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