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Us

Verdoppelte Doppelgänger, die sich quer durch Amerika die Hand reichen; Jordan Peele lässt auf seinen Überraschungshit Get Out einen ambitionierten, originellen Horrorfilm folgen, metaphorisch ambitioniert und doch mit Haut und Haaren im Genre verwurzelt.

Text: Lukas Foerster / 20. Mär. 2019

The Right Stuff (1983), Philipp Kaufmans Epos über den ersten bemannten Weltraumflug der NASA, ist ein Schlüsselwerk des amerikanischen Kinos der frühen Reaganzeit: eine Heldengeschichte, die von einem wiedererwachten Selbstbewusstsein nach dem Vietnamtrauma zeugt. Es geht wieder vorwärts und hoch hinaus, in Richtung Weltall, the next frontier. Nur ein Jahr später allerdings erscheint Douglas Cheeks C.H.U.D., ein Low-Budget-Horrorfilm, der die Blickrichtung umkehrt: Niemand strebt hier zu den Sternen, stattdessen rumort es in der Kanalisation, im buchstäblichen Unterbau unserer Gesellschaft, in dem menschenfressende Mutanten ihr Unwesen treiben.

Zwei komplett unterschiedliche Visionen von Amerika. Das Schöne ist: Man muss sich nicht für eine davon entscheiden, im Kino ist für beide Platz. Das zeigt gleich die erste Einstellung von Jordan Peeles Us, dem Nachfolgefilm seines Überraschungshits Get Out: Zu sehen ist ein altmodischer Fernseher, neben dem Videokasetten platziert sind – unter anderem eben Tapes von C.H.U.D. und The Right Stuff. Auf dem Bildschirm wiederum läuft ein Fernsehbericht über «Hands Across America», ein Benefizevent aus dem Jahr 1986, der die amerikanische Bevölkerung dazu aufforderte, eine Menschenkette durchs gesamte Land zu bilden, als (von Spendengeldern unterfüttertes) Zeichen gegen Armut und Obdachlosigkeit.

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Geht es Peele darum, eine Verbindung zu schaffen zwischen oben und unten? Zwischen den heroischen Astraunauten aus Kaufmans Film und den «cannibalistic humanoid underground dwellers» bei Cheek? Zwischen Oscar-tauglichen Hollywoodprestigeproduktionen und grindigem B-Movie-Schlock? Aber auch: Was genau könnte diese Verbindung stiften? Tatsächlich die historischen «Hände quer durch Amerika»? Das Fernsehen als das gemeinschaftsstiftende Medium schlechthin? Oder vielleicht Peeles Film selbst, ein Autorengenrefilm, der in der Tat gleichermassen von hohen wie von niedrigen Instinkten durchzuckt wird? In jedem Fall: Ein beziehungsreiches, metapherngetränktes Anfangsbild, das sich gleichwohl nicht auf eine einzige, dominante Lesart reduzieren lässt und das eben deshalb gut einstimmt auf eines der ersten Highlights des Kinojahres 2019. Denn auch im Folgenden hantiert Peele zwar mit prinzipiell vertrauten Bausteinen des Genrekinos und anderer popkultureller Zusammenhänge, er setzt sie allerdings nicht fein säuberlich zu Sinnbildern über die «Lage der Nation» oder Ähnliches zusammen, sondern hält sie in der Schwebe, in beweglichen, polyvalenten Konstellationen. Es geht, anders und durchaus ambitionierter als in Get Out, weniger um den Gehalt der Metaphern als um ihre andauernde Rekombination. Was könnte der Neunzigerjahrehit «I Got 5 On it» mit klassischem Ballet zu tun haben? Im – besonders filigran, regelrecht barock konstruierten – Finale werden wir es erfahren.

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Trügerisch vertraut ist, nach einem in den Achtzigerjahren angesiedelten Prolog, die Ausgangssituation: Die Familie Wilson befindet sich auf dem Weg zum gemeinsamen Urlaub, der Vater Gabe (Winston Duke) reisst im Auto fast etwas zu euphorisch seine üblichen Jokes, die Mutter Adelaide (Lupia Nyong’o) ist in unheimlichen Erinnerungen befangen, die Teenietochter Zora (Shahadi Wright Joseph, die grosse Entdeckung des Films) absentiert sich dank Kopfhörern von der von ihr verachteten Restfamilie, der Sohn Jason (Evan Alex) lebt noch in seiner eigenen Kinderwelt und schnallt sich über weite Strecken des Films eine Maske über den Kopf, was zur Folge hat, dass er auch dann in die Kamera zu blicken scheint, wenn er direkt von oben gefilmt wird. Spätestens wenn Jason sich kurz nach der Ankunft im Ferienhaus selbst in einem Schrank einschliesst und panisch um Hilfe ruft, ahnen wir: Das Urlaubsdomizil wird bald für die ganze Familie zur Falle werden. Der klaustrophobische Home-Invasion-Thriller ist allerdings nur eine unter mehreren Spielarten des Horrorgenres, die Peele in seinem neuen Streich auf uns loslässt. Gleichzeitig ist Us ein Doppelgängerfilm und ein Endzeitthriller, nebenbei werden noch zahlreiche andere Horrorsemantiken wie etwa die Spiegelmotivik und der Jahrmarktsschauplatz bedient.

Selbst in sich sind die einzelnen Bestandteile des Films komplex gebaut. So begegnen die Hauptfiguren etwa gleich zwei verschiedenen Arten von Doppelgängern: Zunächst muss sich die schwarze Mittelklassefamilie mit einer etwas saturierteren, aber auch groteskeren, weissen Mittelklassefamilie herumschlagen (ein Highlight des Films: Elisabeth Moss, die ihre Rolle als lebenslustige Schnapsdrossel voll auskostet – «it’s vodka o’clock»). Bald darauf stehen in der Einfahrt des Ferienhauses vier Gestalten, die in Grösse und Statur den Wilsons zum Verwechseln ähneln. Tatsächlich werden die ungebetenen Gäste von denselben vier Schauspieler_innen verkörpert, die allerdings in der Maske gezielt verunstaltet wurden. Sie sehen aus wie Betaversionen oder schlecht abgepauste Reproduktionen; die sich nun aufmachen, ihre Originale heimsuchen.

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In Us stecken gut und gerne Ideen für zehn Filme. Ab und an mag man denken: Ideen für acht hätten auch gereicht. Etwas fehl am Platz wirken insbesondere einige klassisch satirische Elemente, die an Get Out und auch an Peeles Comedyvergangenheit anschliessen. Dass nicht nur die Mitglieder der weissen Familie als Schiessbudenfiguren gezeichnet werden, sondern auch noch Vater Wilson als wandelnder Witz, beziehungsweise Mittelschichtspatriarchenkarikatur durch den Film läuft, ist vielleicht etwas zu viel des Guten. Deutlich stärker ist Us, wenn Peele sich, und das tut er zum Glück meistens, an die Figuren hält, die er selbst ernst nimmt: Adelaide, Zora und Jason erweisen sich, sobald der Film nach einer knappen halben Stunde das Tempo anzieht (und im weiteren Verlauf den Rhythmus zwar geschickt variiert, aber den Fuss nie mehr komplett vom Pedal nimmt), als ebenso flexibel und überraschungsreich wie der Film um sie herum.

Anders ausgedrückt: Sie nehmen die Herausforderungen des Films und des Genres an. Wie Us überhaupt, vielleicht zuallererst, eine Liebeserklärung an den Horrorfilm in all seinen Formen und Tonarten ist. Keineswegs ist Peele sich zu schade für die basalen Effekte und Affekte des Genres, die jump scares, das spritzende Blut, der schon totgeglaubte Bösewicht, der doch noch einmal die Schere (das ist hier, durchaus effektiv, die weapon of choice) schwingen darf. Insofern hebt sich sein Film nicht nur als Unterhaltungskino für denkende Menschen wohltuend von den stromlinienförmigen Superheldenserials des Mainstreams ab, sondern auch von in Kunstwillen einbalsamiertem Boutiquehorror wie It Comes At Night oder The Witch. Us ist ein Horrorfilm, der sich nicht andauernd dafür entschuldigt, ein Horrorfilm zu sein, und der sich gerade deshalb wagemutiger und neugieriger anfühlt als so ziemlich alles andere, was derzeit im Kino zu sehen ist.

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