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Passion – Zwischen Revolte und Resignation

In Passion erzählt Christian Labhart von seinem Verhältnis zur am «entfesselten Kapitalismus» leidenden Welt. Es ist ein «Selfiefilm» geworden.

Text: Tereza Fischer / 05. Apr. 2019

Vor mehr als zwanzig Jahren hat Thomas Haemmerli in seinem Schulfilm 9 Kapitel für Ben oder Dokumentarfilm: eine Anleitung das Dokumentarfilmemachen auf die Schippe genommen. Unter anderem rät er darin zynisch, man solle als Autor_in unbedingt Präsenz markieren und die eigene Betroffenheit und Verletzlichkeit einbringen. Egal bei welchem Thema. Den Kommentar soll man möglichst selbst sprechen, vor allem aber mit Landschaftsbildern und schwermütiger Musik untermalen, die Bedeutung der Worte betonen und den Zuschauer_innen Raum geben, um darüber nachzudenken. Seither hat sich Haemmerli in seinen beiden Filmen Sieben Mulden und eine Leiche (2007) und Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings (2017) tatsächlich in den Mittelpunkt gestellt, beide Male schaffte er jedoch mittels Ironisierung eine Distanzierung zu sich selbst und öffnet damit die Perspektive auf komplexe Themen. Die Gefahr, dass es manchen Zuschauer_innen zu viel Haemmerli in diesen Filmen hat, bleibt dennoch bestehen.

Nun haben persönliche Dokumentarfilme in den letzten zwanzig Jahren exponentiell zugenommen. «Ich» zu sagen hat Konjunktur. Die Funktionen dieser Geste sind dabei unterschiedlich, am persönlichsten präsentieren sich Filmschaffende aber in Selbstporträts. So blickt beispielsweise Francis Reusser in La séparation des traces (2018) auf sein mehr als fünfzigjähriges Filmschaffen zurück – persönlich, aber auch selbstreflexiv und aufschlussreich über das Filmemachen nachdenkend. Der Begriff Selbstporträt verweist dabei auf eine Tradition in der Malerei: Die Künstler_in malen oder zeichnen sich selbst, nicht etwa um sich auf die Stufe mit ihren meist adligen Auftraggeber_innen zu stellen, sich wichtig zu nehmen, sondern um ihre Kunstfertigkeit auszustellen.

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Nun hat Christian Labhart mit Passion einen «Essayfilm» realisiert, den man dem Selbstporträt zuordnen könnte. So zeichnet er sein bisheriges (privates) Leben und seine Gesinnung entlang nationaler und internationaler politischer Ereignisse nach. Seinen anfänglichen Idealismus stellt er anhand der Teilnahme an Protestmärschen gegen die Atomkraftwerke oder das vorübergehende Aussteigerleben in einer selbstversorgenden Kommune dar. Immer stärker jedoch lösen sich in seiner Erzählung Politik und Privatleben voneinander, die Resignation, in der globalisierten Welt etwas bewegen zu können, nimmt überhand. So heisst es zu Beginn: «Noch heute zieht mich Rebellion an, sie nährt meine Sehnsucht nach einem gemeinsamen Wir. … Ich schaue in die Welt, was ist geblieben von meiner Utopie?»

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Um von Anfang an diese nicht weiter spezifizierte Verflüchtigung von politischem Engagement in der am «entfesselten Kapitalismus» leidenden Welt aufzuzeigen, ist die chronologische Darstellung des Privaten in vielen Familienfotos von wunderschönen(!) Aufnahmen durchbrochen, die Missstände wie Umweltschäden, Krieg und Überbevölkerung zeigen. Sie stammen vom kürzlich verstorbenen Kameramann Pio Corradi und von Simon Guy Fässler. Es sind, so gekonnt die Mise en Image auch ist, stereotype Bilder, die Labhart aneinanderreiht, um bei den Zuschauer_innen historisches Allgemeinwissen und Allgemeinplätze über den Zustand der Welt abzurufen. Oder die Bilder illustrieren die Textpassagen von Autoren wie Kafka, Žižek, Brecht oder Ulrike Meinhof. So entsteht ein apokalyptischer Flickenteppich und auf der Tonspur ein geistreiches Potpourri.

Diese Passagen aus fremden, literarischen Texten und die Matthäuspassion sind Labhart «Koordinaten seines Blicks», wie er zu Beginn betont. Für den schwermütigen Hintergrund dieser Resignationsgeschichte, die vom Verlust des Wir-Gefühls erzählt, wählt er die oratorische Passion von Johann Sebastian Bach: das Leiden und Sterben Jesu Christi.

Mit diesem Film über seine eigene Resignation hat Labhart jedoch kein Selbstporträt, keine gesellschaftlich oder philosophisch relevante Selbstanalyse geschaffen, sondern eine Art «Selfiefilm». Die Kamera auf Armeslänge haltend fehlt bei den Selfies die Distanz zu sich selbst. Der (räumliche) Kontext ist nur angedeutet, während die eigene Person fast das gesamte Bild ausfüllt. Die Selbstdarstellung will die eigene (meist positive) Befindlichkeit ausstellen oder sich mit der Aura von Stars, Ereignissen und besonderen Orten schmücken. «Selfies sind Smalltalk in Bildform», sagt Medienpädagoge Philippe Wampfler.

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Als Smalltalk lässt sich Passion sicherlich nicht bezeichnen, doch die Geste der Darstellung der eigenen Befindlichkeit vor dem Hintergrund der sich verändernden Welt oder gar vor weltbewegenden Katastrophen, ist irritierend. Umso mehr, als der Regisseur nur oberflächliche Beziehungen zu den Ereignissen herstellt. Während die Berliner Mauer fällt, bröckeln etwa Labharts «Gewissheiten eines gelingenden Lebens.» Während das World Trade Center brennt und zusammenstürzt, wäscht Labhart ab; das Grauen erreicht ihn kaum. Warum, fragt man sich als Zuschauer_in – und erhält keine Antwort.

«Neben» dem Beginn des Irakkriegs steht dann der Beginn der eigenen Filmkarriere: «Die USA greifen den Irak an. Und ich … drehe meinen ersten Film.» Die Bedeutung des Mauerfalls oder des Terroranschlags für die Gesellschaft oder auch für das eigene Leben fehlt, die Ereignisse markieren lediglich bestimmte Punkte auf dem Zeitstrahl der Geschichte. Die Befindlichkeit steht als blosse Feststellung vor den Bildern einer «untergehenden» Welt. Auf den Irakkrieg etwa folgen Landschaftsaufnahmen von verbrannten Baumresten, ein riesiger Parkplatz, über dem ein Flugzeug zur Landung ansetzt, und eine nächtliche Hochhauslandschaft. Dann Textpassagen aus «Wie tief sollen wir graben» von Arundhati Roy. Man fühlt sich unweigerlich an Haemmerlis ironische Anleitung zum Dokumentarfilmemachen erinnert. Die Ironie fehlt jedoch.

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An einer Stelle fragt sich Labhart, ob er mit dem Filmemachen, also Erschaffen eines «Abbilds der Welt», diese verändern könne. An diesem Punkt kristallisiert sich ein grundlegendes Missverständnis, das vielleicht auch diesen Film erklärt: Ein Dokumentarfilm kann niemals ein Abbild der Welt sein, er ist immer eine Konstruktion, eine Annäherung des Filmschaffenden an diese Welt. Möglicherweise lässt sich dieser Anspruch aber mit einem «Selfiefilm» realisieren. Schliesslich verwenden Influencer in den sozialen Medien Selfies, um ihre Umgebung zu beeinflussen. Und vielleicht ist Passion der Versuch, die Verbundenheit mit der Welt wiederzuerlangen.

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