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Pity / Oiktos

Tränen lügen nicht, davon ist die Hauptfigur von Babis Makridis’ Pity überzeugt. Und wenn man ihnen trotzdem nicht glaubt, muss er eben ein bisschen nachhelfen.

Text: Stefan Volk / 20. Mai 2019

Der Anblick dieses Mannes ist nur schwer auszuhalten. Der Kopf ist schildkrötenhaft nach vorne gereckt. Die Mundwinkel hängen. Ein Hundeblick, dem die hündische Unterwürfigkeit jedoch fehlt. Mitleid nicht heischend, sondern geradezu fordernd. Irgendwie trotzig, beleidigt. Mit diesem immer gleichen, trostlosen Regenwetterblick wandelt der Protagonist aus Babis Makridis’ Pity wie ein personifizierter Vorwurf durch einen Kosmos voll steriler Schönheit. Der erfolgreiche Anwalt, der Opfer von Gewaltverbrechen vertritt, lebt zusammen mit seinem heranwachsenden Sohn – einem wohlerzogenen, schweigsamen Jungen und hoffnungsvollen Klaviertalent – in einem modernen Luxusappartement an der griechischen Küste. Das Meer ist in Sichtweite. Die Sonne scheint. Regisseur Makridis lässt die Farben leuchten – und kreiert so einen symbolischen Kontrast zum matten Gesicht seiner Hauptfigur und deren Unglück. Die Frau des Anwalts liegt im Koma. Nach einem Unfall, von dem man nie mehr erfährt, als dass er aus heiterem Himmel kam.

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Wer würde da kein Mitgefühl aufbringen? Die Nachbarin trägt Tag für Tag selbst gemachten Kuchen an die Tür. Der Mann in der Reinigung gewährt dem Anwalt einen Rabatt. Die gross gewachsene Kanzlei-sekretärin lässt sich sprichwörtlich und buchstäblich zu einer steifen Umarmung herab. Alle versuchen sie, den sichtlich Gebeutelten aufzumuntern, mit sich wiederholdenden «Kopf hoch»-Formeln. Nichts davon kommt von Herzen. Sie alle betreiben emotionalen Ablasshandel. Fühlen sich verpflichtet. Echtes Mitleid – auf Griechisch: Oiktos – empfinden sie vermutlich genauso wenig, wie die Zuschauer_innen das tun dürften. Denn wie soll man Anteil nehmen am Schicksal eines namenlosen Anwalts, über den man nichts weiss und von dem man nichts anderes kennt als dieses ewige Miesepetergesicht und der die Empathie für andere genauso heuchelt, wie sie ihm entgegengelogen wird. Zwar behauptet er, seine Klient_innen seien wie Geschwister für ihn, aber tatsächlich missbraucht er sie dafür, seine eigene Trauer zu reflektieren. Anstatt sie zu trösten, suhlt er sich als vermeintlich Gleichgesinnter in ihrem Leid. Als ihm im Krankenhausflur eine verzweifelt weinende Frau begegnet, die ihm hilfesuchende Blicke zuwirft, lässt er sie ohne jede Regung links liegen.

Man könnte das ja alles verstehen. Dass die Trauer ihn lähmt, dass sie ihn verbittert, dass sie ihm sogar die munteren, beschwingten Stücke, die sein Sohn auf dem Klavier einübt, unerträglich macht. Dass sie ihn stattdessen zu einem ebenso verstörenden wie ergreifenden Klagelied inspiriert, in dem er den Tod seiner Frau vorwegnimmt. In einem feinfühligen Psychodrama liesse sich das alles mit dem Schmerz erklären, der den Anwalt überwältigt. Ein gebrochener Mann als Leib gewordenes Häuflein Elend, das Einspruch einlegt gegen jeden Anflug von Lebensfreude. Doch auch wer Babis Makridis nicht direkt der Greek Weird Wave um Filmemacher Yorgos Lanthimos (Dogtooth) zuordnen kann, ahnt schon nach wenigen Einstellungen, dass Pity kein gewöhnliches Drama sein will. Zu unerbittlich sperrt die strenge Kameraarchitektonik die namen-losen Figuren in penibel durchdesignte Tableaus ein. Zu pathetisch überhöhen die an klassische griechische Tragödien angelehnten Texteinblendungen das Gefühl der Verzweiflung ins Heldenhafte. Und zu sehr verklären wuchtige Choräle Rituale des Tröstens zu tosenden Epiphanien.

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Man spürt es bald: Da hat sich einer ungesund wohlig in seinem Selbstmitleid eingerichtet. Unter der Trauer brodelt etwas, das sich spätestens ab Mitte des Films immer ungezügelter Bahn bricht – nachdem das Wunder geschehen ist und die Frau des Anwalts aus dem Koma erwacht. Schon bald kehrt sie nach Hause zurück. Die Freunde, die gerade noch den Mann betüttelten, hängen jetzt seiner Frau an den Lippen, die von ihrer Nahtoderfahrung berichtet. Auch bringt die Nachbarin keinen Kuchen mehr.

In der verqueren Welt von Pity erscheint dem Protagonisten weniger das Koma als Katastrophe als das Erwachen daraus. Dieser potenziell komische Widerspruch hat einen Teil der Kritik dazu verleitet, den Film als eine Tragikomödie einzustufen. Tatsächlich kann man sich den mitleidsüchtigen und egozentrischen Antihelden lange als eine Art griechische Variante von Mr. Bean vorstellen. Alles Humorvolle, das da im Zwischenreich von Psychologie und Psychopathologie schlummert, wird jedoch erdrückt von einer beklemmend kalten American Psycho-Ästhetik, einer bedächtigen, gewichtig nachhallenden Montage und einem konsequent monoton angelegten Schauspiel.

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Das ist irritierend und faszinierend anzusehen, aber auch ungemein anstrengend. Ob sich die Anstrengung für einen am Ende lohnt, entscheidet sich mit der letzten Viertelstunde, in der §Pity noch einmal eine Wende nimmt. Diese mag man als wunderbar bizarr oder aber als abgeschmackt und aufgesetzt wahrnehmen. Konsequent erscheint sie allemal, da sie erneut in den Mittelpunkt rückt, worin sich in §Pity alle Restmenschlichkeit kanalisiert: das Weinen. Auch wenn die Frau des Anwalts nicht länger im Koma liegt, wirkt der Alltag des Anwalts dadurch keinen Deut lebendiger oder wärmer. Alles bleibt zum Gruseln gleichförmig, distanziert und nüchtern. Einzig im Weinen, im hemmungslosen Schluchzen gelingen dem Protagonisten kurze authentische Gefühlsausbrüche aus einer gespenstischen Scheinwelt.

In einer der eingeblendeten Textzeilen beschwert sich der Erzähler, der die Perspektive des Anwalts einnimmt, darüber, dass das Weinen in Filmen immer so unecht wirke. Weinen sei das, was sich am schwierigsten spielen lasse. Legt man diesen Massstab an Pity an, so gelingt Makridis mit seinem Ensemble um Hauptdarsteller Yannis Drakopoulos eine kleine Meisterleistung. Denn auch wenn der gewagte, skurrile und herausfordernde Film vielleicht eine Spur zu durchkonstruiert, zu prätentiös und zu langatmig daherkommt, um zum Heulen schön zu sein – schön geheult wird darin allemal.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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