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Ray & Liz

Die Mutter sitzt dauerfluchend hinterm Tischchen, der Vater trinkt tagaus tagein selbst gebrautes Bier. Erinnerungen an eine Kindheit zwischen floralen Tapetenmustern und sozialer Kälte.

Text: Tereza Fischer / 06. Mai 2019

Vor mehr als zwanzig Jahren hat der Fotograf Richard Billingham den tragikomischen Fotoband «Ray’s a Laugh» über seine Eltern herausgegeben, über den arbeitslosen und alkoholabhängigen Vater und die gewalttätige, dauerrauchende Mutter. Ursprünglich waren die Fotos als Vorlage für Gemälde gedacht, erhielten jedoch durch einen Zufall ein erfolgreiches Eigenleben in der Kunstszene. Nun hat Billingham anhand dieser Fotos seine Erinnerungen zum Leben erweckt, Erinnerungen an eine Kindheit in ärmsten Verhältnissen und gezeichnet durch grobe Vernachlässigung der Kinder.

Die Handlung von Ray & Liz ist minimal und in drei Teile gegliedert, deren Aufbau dem fragmentarischen Wesen von Erinnerungen folgt. Billingham selbst kommt nur als Randfigur vor. Der erste Teil ist Vater Ray gewidmet, er bildet den Rahmen für die anderen beiden zeitlich weiter zurückliegenden Episoden. Ray ist Mitte der Neunzigerjahre alleine in der Sozialwohnung der Familie geblieben. Eigentlich lebt er nur noch in einem einzigen Zimmer, ohne sich vom Bett weiter als bis zur Toilette zu entfernen. Meistens beschränkt sich sein Aktionsradius auf wenige Zentimeter zwischen dem Bett, der Kommode und dem Fenster. Ray dient der ehemalige Schminktisch nun als Bar für selbst gebrautes Bier, mit dem er sich ernährt und seinen Alkoholpegel konstant hochhält. Ein Radio und das kleine Fenster sind Rays Verbindungen zur Welt.

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In extremen Detailaufnahmen zeichnet Billingham diesen Mikrokosmos als ein friedliches, warmes Leben, von dem der Vater zynisch sagt, er fühle sich darin wohl «like a pig in shit». Eine Fliege am Flaschenhals, ein bis zum Rand gefülltes Glas, die Spitzenbordüre der Gardine im Abendrot. Es sind bildfüllende Puzzleteile, die sich zu einer kompletten Welt fügen. Zeigt jedoch die Kamera das Zimmer unmittelbar da-rauf, etwa wenn Rays Freund Sid den Raum betritt, in seiner Ganzheit, schrumpft diese Welt in einer paradoxen Bewegung zu einem kleinen, erbärmlichen Zimmer, und die romantisierte, subjektive Sicht von Ray löst sich in Beklemmung auf.

In der ersten Rückblende greift der Regisseur dann die Zeit Anfang der Achtzigerjahre auf, in der sein Vater arbeitslos wurde und er selbst etwa zehn Jahre alt war. Die abgenutzte Tapete im kleinen Reihenhaus zeugt von besseren Zeiten. Nun muss die Familie untervermieten und sich räumlich einschränken. In dieser Episode lässt sich der geistig zurückgebliebene Onkel Lol vom sadistischen Untermieter dazu verführen, den gut gehüteten Alkoholschatz der Familie zu plündern. Überzeugt, dass Lol Richards kleinen Bruder Jason vernachlässigt und sich fahrlässig bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hat, schäumt Liz vor Wut und wird gewalttätig. Ella Smith spielt diese korpulente Mutter als emotional von sich selbst und ihren Nächsten distanzierte Herrscherin über ihr kleines Reich. Darin lebt ein ganzer Zoo an Haustieren, türmen sich Nippes und künstliche Blumen. In fast jeder Einstellung sitzt sie in bunten Blumenkleidern und eingeklemmt hinter einem kleinen Tischchen, auf dem sie Puzzles zusammensetzt, raucht und Tee trinkt.

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Im dritten Teil ist die Familie in einer winzigen Sozialwohnung in einem Hochhaus gelandet. Die Eltern schlafen oft tagsüber und merken kaum, was ihre beiden Söhne tun oder wie sie sich ernähren. Auch dass Richards kleinen Bruder Jason über Nacht wegbleibt und fast in einem Gartenhäuschen erfriert, bemerken sie nicht. Weil dies aber im Umfeld auffällt, kommt Jason daraufhin in einem Pflegefamilie. Die letzte Begegnung zwischen ihm und den Eltern findet im Film in einem Park statt, wo der Junge mit seinem Freund Fangen spielt und die Eltern mit einem Kinderwagen spazieren gehen. Einer kurzen Irritation folgt die Auflösung: Sie führen ein Kaninchen aus. In der weiten Einstellung, in der der Spazierweg quer durchs Bild läuft, entfernt sich die Familie voneinander in einer unspektakulären, aber unaufhaltsamen Bewegung, bis die Eltern und Jason an jeweils gegenüberliegenden Bildrand ins Off verschwinden. Als wäre nichts gewesen.

Billingham alterniert diese Momente der elterlichen emotionalen Kälte und Ignoranz mit Augenblicken des flüchtigen Glücks, etwa wenn Jason die Schule schwänzt und sich im Zoo vergnügt oder wenn die beiden Brüder gemeinsam Tiersendungen schauen. So entsteht ein vielschichtiges Bild einer von Vernachlässigung geprägten Kindheit.

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Um sich atmosphärisch an die Achzigerjahre anzulehnen, hat Billingham für Ray & Liz das Standardformat 4:3 gewählt und auf Film gedreht. Die Bilder zeichnen sich durch grosse Nähe zur Malerei aus und erinnern stark an Terence Davies’ Distant Voices, Still Lives mit seinen floralen Tapetenmustern, der Vermeer’schen Lichtführung und einem oft flachen Bildaufbau. Immer wieder füllen technische Geräte das Bild: ein Kassettenrekorder, der rot glühende Heizstrahler oder der flimmernde Fernseher. Es sind Substitute eines intakten Familienlebens, mit denen sich Geschichten erzählen lassen, die ein Stück der faszinierenden weiten Welt in die trostlose Wohnung holen oder ganz einfach Wärme spenden. Wärme ist das, was am meisten fehlt, ob tatsächlich wegen abgestellten Stroms oder als Liebe und Geborgenheit im übertragenen Sinn.

Richard Billinghams Eltern sind beide früh verstorben. Dass ihr Sohn ihr Leben in Form von Fotoarbeiten und nun in einem Film in Kunst verwandelt hat, haben sie nie erfahren. Mehr aber noch als ihnen scheint Billingham seinen Film seinem jüngeren Bruder Jason gewidmet zu haben.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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