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L’adieu à la nuit

Zwischen Dschihad und Chandelier: André Téchiné erklärt uns nicht die Welt, sondern konfrontiert uns mit ihrer Unerklärbarkeit.

Text: Lukas Foerster / 23. Sep. 2019

Mit einer Sonnenfinsternis fängt es an, einem jedem menschlichen Handeln unzugänglichen Naturereignis, das den Tag zur Nacht macht und das, so warnt Youssef seine Geschäftspartnerin Muriel, ein menschliches Auge, das es ungeschützt anblickt, verbrennen kann. Die Filmkamera jedoch hält mehr aus, sie schwebt nach oben, über die blühenden Kirschbäume hinweg, unter denen die beiden in der ersten Szene des Films spazieren, und blickt direkt auf den gleissenden Lichtreif am Himmel.

Genau so bricht auch das Drama, von dem André Téchinés L’ adieu à la nuit erzählt, wenig später über den Reiterhof hinein, den Muriel und Youssef auf einem wildromantisch schönen Stück Erde an der südfranzösischen Mittelmeerküste betreiben: wie ein Akt höherer Gewalt, den man filmen, aber nicht verhindern kann; und den man vielleicht auch nicht allzu genau zu verstehen versuchen sollte.

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Das ist jedenfalls die Antwort, die Muriel auf die Frage erhält, was sie tun könne, um zu verhindern, dass ihr Enkelsohn Alex als Gotteskrieger in Syrien stirbt. Nichts kann sie tun, sagt ihr ein IS-Aussteiger, bei dem sie Hilfe sucht, und es lohne sich auch nicht, nach Alex’ Gründen zu fragen. Es gibt keine Gründe jenseits des (spät)pubertären Wunsches nach einem anderen Leben. Das Morden im Namen des Islam ist eine Life­styleoption unter anderen, und ihren Life­style lässt sich die junge Generation nun mal ungern von einer älteren diktieren. Ob das als politische Analyse überzeugt oder nicht – aus einer filmischen Perspektive ist Téchinés Entscheidung, keinen «Film über Radikalisierung» zu drehen, sondern Muriel und auch sein Publikum vor vollendete Tatsachen zu stellen, goldrichtig; weil sich L’ adieu à la nuit dadurch aus dem engen Korsett des Themenfilms befreien kann.

Themenfilme haben in cinephilen Kreisen keinen guten Ruf, aber schon die Tatsache, dass sie nicht totzukriegen sind, zeigt, dass ihnen ein Bedürfnis zugrunde liegt, und sei es nur das der Fördergeber nach soziokulturellem Nachhall ihrer Investition. Natürlich kann man sich auch aus anderen Gründen wünschen, dass sich das Kino mit den zentralen Fragen seiner Zeit beschäftigt. Der Themenfilm ist nicht an sich problematisch, sondern weil er dazu tendiert, Themen auf eine Art und Weise zu personalisieren, die Figuren auf Behälter für Themen reduziert und Themen nur als Funktionen von Figuren (im Themenkino ist jedes Thema immer schon ein Human-Interest-Thema) denken kann.

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Ganz frei ist L’ adieu à la nuit nicht von derartigen Fallstricken. So greift Téchiné etwa einmal auf eines der ärgerlichsten und hartnäckigsten Klischees des Themenfilms zurück: Wir sehen Muriel im Auto, sie hat das Radio angeschaltet, und natürlich wird gerade in diesem Moment von den hohen Umfragewerten des Rassemblement National berichtet. Das ist und bleibt eine der billigsten und in ihrer ausgestellten Beiläufigkeit aufdringlichsten Techniken des Kinos, Zeitgenossenschaft vorzutäuschen.

Den Kern des Films berühren solche lokalen Übergriffigkeiten nicht. L’ adieu à la nuit erklärt uns nicht die Welt, sondern konfrontiert uns mit ihrer Unerklärbarkeit. Wie kann man die Pferde- und Kirschblütenidylle und das Azurblau des Meeres mit dem staubig-blutigen Traum vom Dschihad zusammendenken? Wie das schmale, unfertige Gesicht von Alex, der seiner Grossmutter zunächst vorlügt, er wolle nach Kanada auswandern, mit dem Gotteskriegertum? Vielleicht bedarf es eines Unermüdlichen des Kinos, um die kategorische Unlesbarkeit der Welt und der Menschen in den Blick zu bekommen. Seit den Siebzigerjahren hat Téchiné an die dreissig Filme gedreht, und je älter er wird, desto schneller scheint er zu arbeiten. Bei L’ adieu à la nuit sieht man sofort, dass diese Produktivität nichts mit eingetakteter Routine zu tun hat, sondern auf eine innere Unruhe, ein beständiges Vorwärtsdrängen verweist. Der Schnitt in die Bewegung ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In Verbindung mit kurzen, schubartigen Kamera- und dynamisch-unberechenbaren Figurenbewegungen ergibt sich etwas, das man «Bilderfluss» nennen möchte, aber vielleicht nicht sollte – weil dieser spezielle visuelle Strom sozusagen immer schon über die Ufer tritt. Téchinés Kino zielt nicht auf Immersion, es versenkt sich nicht in den Moment, klebt nicht am Hier und Jetzt, verweist vielmehr stets auf etwas Unabgeschlossenes.

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In den beiden Hauptrollen brillieren Catherine Deneuve und Kacey Mottet Klein als perfekt aufeinander abgestimmte Antipoden. Deneuves abgeklärte Starperformance strahlt eine Seelenruhe aus, die auf Muriels existenzielle Verunsicherung fast nur ex negativo verweist, in Gestalt einer langsam ins Maskenhafte übergehenden Coolness; während Klein als Alex im Gegenteil ganz Oberflächennervosität ist, mit einem stur nach vorn gerichteten Scheuklappenblick durch die Gegend läuft, zu zittern beginnt, wenn er doch einmal stillsitzen soll – und trotzdem, offensichtlich, über eine, wenn auch pathogene, innere Festigkeit verfügen muss, die ihn unaufhaltsam gen Syrien treibt. Mit sich selbst identisch sind sie beide nicht, nie, und auch die anderen Figuren des Films sind nicht auf das eine, authentische Zentrum ihres Selbst reduzierbar. Alex’ Jugendfreundin Lila etwa, die ebenfalls nach Syrien will und ideologisch gefestigter scheint als er, lebt mit einem älteren Herrn zusammen, der Ansprüche an sie stellt, die vom Film nie konkretisiert werden, aber mit einem keuschen Leben im Namen des Islam nicht so ohne weiteres kompatibel sein dürften.

Eine zentrale Szene des Films ist eine Parallelmontage: Lila legt, versuchsweise, den Hidschab an, ihr kommendes Leben im Islamischen Staat antizipierend, während Muriel eine Familienfeier besucht, auf der ein Teeniemädchen im Sport-BH zu «Chandelier» von Sia und David Guetta tanzt, wild, hemmungslos und ekstatisch, als glühten ihr gerade ein paar Drähte durch. Lifestyle choices …

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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