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Der Büezer

Ein Zürcher Travis Bickle? Nicht ganz, aber Hans Kaufmanns eindrückliches, ohne Fördergelder realisiertes Debüt eröffnet dem Schweizer Filmschaffen eine aufregende neue Perspektive.

Text: Till Brockmann / 09. Sep. 2019

Schon wieder ein Film über die Arbeiterklasse! Nein, man könnte diese Besprechung kaum irriger beginnen: Beschäftigte im sekundären Sektor (wird dieser Begriff in der Schule heute noch gelehrt?) geben nicht den Typ Hauptfigur ab, mit dem man das grosse Kinopublikum lockt. Arbeiter_innen als Thema sind im Schweizer, aber auch im internationalen Filmschaffen – vielleicht mit Ausnahme einiger Schwellenländer –, in den letzten Jahrzehnten klar unterrepräsentiert. Die Sechziger- und Siebzigerjahre sind längst vorbei. Nur der britische Arthousefilm durchleuchtet noch gelegentlich das Schicksal dieser Gesellschaftsschicht. Bei gefühlt der Hälfte dieser Werke heisst der Regisseur Ken Loach.

Wenn wir nicht gar bei den Superhelden sind, sondern bei Filmen aus dem gesellschaftlichen Alltag, taugen protzige Manager, gerissene Finanzhaie, Informatikerinnen, Marketingexpertinnen und Wellnesstrainer am besten, um den Zeitgeist im Kino zu bedienen, doch auch die altbewährten Lehrer, Ärztinnen, Journalistinnen und Kulturschaffenden sowie natürlich Polizisten dürfen noch ihren Dienst als Hauptfigur tun. Fabrik- oder Bauarbeiter sind nicht nur von der grossen Leinwand, sondern auch aus unserem Bewusstsein verschwunden: Sie passen nicht ins Informationszeitalter. Eigentlich wollen wir nicht einmal ihre Selfies sehen.

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Der Büezer heisst Patrick Signer, doch alle nennen ihn Sigi. Er lebt in Zürich, ist etwas über zwanzig und Sanitärinstallateur. Er arbeitet meistens auf dem Bau und manchmal für Walter, der ihm schwarz ein paar Jobs in Rotlichtmilieu-Wohnungen verschafft, um ihm dann «es Couvertli» zuzustecken. Sigi wohnt allein, seine Eltern sind vor ein paar Jahren verstorben. Wenn er nach Hause kommt, duscht er, setzt sich aufs Bett und kifft erst mal eins – um runterzukommen.

Sigis Leben ist genauso öde, wie sich dessen Schilderung anhört. Doch er erwartet nicht viel mehr, ist nicht aufgebracht gegen irgendeine Elite oder bereit für einen Kampf gegen «das System». Er gehört auch nicht zu den angry white men, die diesseits und jenseits des Atlantiks den Stosstrupp der Populist_innen stellen. Dafür ist er zu jung und vor allem zu schüchtern und zu zart besaitet. Wenn er mit etwas zu kämpfen hat, dann mit dem Frust, keine Freundin zu haben.

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Der verschärft nicht nur seine Einsamkeit, sondern isoliert ihn in der Machowelt seiner Kumpels auf dem Bau: Wenn die sich unterhalten, geht es bei jedem vierten Satz mal nicht ums F***en – allerdings ist klar, dass das gruppendynamische Sprücheklopfen und das Feiern des eigenen Rammlertums eher der Verunsicherung entspringen als einem erfüllten (Sexual-)Leben. Sigi hört dennoch auf ihren Rat, versucht es mit Tinder und hat prompt ein erstes Date. Er begeht den Fehler, der jungen Frau, die bei einer Werbeagentur arbeitet und solides Marketingkauderwelsch von sich lässt, die Wahrheit zu sagen: Er sei ein Büezer. Schnell sitzt er wieder allein am Tisch. Dann lernt er Hannah auf der Strasse kennen, die ihn spontan zu einer Party einlädt. Diese findet an einem Sonntag statt und versammelt joviale junge Menschen, die dressiert ausgelassen Jesus Christus besingen. Nun sitzt Sigi erst recht in einer ideologisch-erotischen Zwickmühle.

Hans Kaufmanns erstaunlichem Erstlingswerk gelingt es, das psychologische Profil seiner Hauptfigur, die von Joel Basman glänzend verkörpert wird und dem Darsteller auf den fragilen Leib geschrieben wurde (Basman ist zudem als ausführender Produzent gelistet), mit einem ökonomischen und gesellschaftspolitischen Kontext zu verbinden. Die postpubertäre Männlichkeitskrise und die Orientierungslosigkeit mögen zwar generationale Allgemeingültigkeit besitzen, doch sie werden durch das soziale Umfeld zusätzlich und schmerzlich potenziert. Es sind weniger die Produktionsverhältnisse, die die Arbeiter_innen in der heutigen Klassenhierarchie ausgrenzen, als das immer dominierendere und medial befeuerte Lifestylecredo. Wer heute hip sein will, muss nicht nur Geld und Bildung aufweisen, sondern auch den richtigen Yogalehrer kennen und wissen, dass der Aperol Spritz schon seit ein paar Jahren out ist.

Kaufmann hat seinen Film mit einem minimalen Budget und ohne Unterstützung öffentlicher Fördergremien finanziert. Viele Schauspieler_innen und Techniker_innen gehören zum Bekannten- und Freundeskreis und haben für einen bescheidenen oder sogar ohne Lohn mitgearbeitet. Drehtage und produktioneller Aufwand waren begrenzt. Doch die kargen Mittel, die unmittelbare, aber elegante Handkamera von Pascal Walder und die Kenntnis des Teams vom Zürcher Mikrokosmos verleihen dem Film Authentizität. Für Einheimische und Zugezogene hat die filmische Topografie einen genüsslichen Wiedererkennungswert: Sigi wohnt irgendwo draussen beim Triemli, weil er sich eine Wohnung im Zentrum nicht leisten kann; das Tinder-Date trifft er in einem Szene- und Cocktailschlürflokal, das zu den offiziellen Schnösel- und Tussentreffs der Limmatstadt gehört; Hannah begegnet Sigi auf dem historischen Büezer-/Helvetiaplatz; nicht weit davon, im Milieu, trinkt er mit Walter ein Bier, genau dort, wo das Milieu eben sein Bier trinkt.

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Was dem Film weniger guttut, ist die dramatische Beschleunigung gegen Ende. Vielleicht, weil sie in dieser Wucht erzählerisch gar nicht notwendig ist und daher etwas forciert wirkt: So etwa, wenn der Vater­ersatz Walter als Zuhälter und Menschenschänder sein wahres Gesicht zeigen muss. Auch die dampfkochtöpfige Explosion der Hauptfigur, mehr wollen wir hier nicht preisgeben, gerät bei der zuvor so sorgfältig aufgebauten Charakterstudie einer labilen und doch liebevollen Persönlichkeit nicht vollkommen überzeugend.

Amüsant hingegen und in ihrer fast schon pla­giierenden Frechheit wohl auch ironisch zu werten, ist die Anlehnung dieses kleinen Erstlingswerks an ein grosses der Filmgeschichte: Scorseses Taxi Driver. Obwohl dort die Hauptfigur Bickle als Vietnamveteran unter vollkommen anderen Vorzeichen steht und New York nicht ganz mit dem Zürcher Kreis 4 gleichzusetzen ist, sind Spiegelungen eklatant: Beide Männer sind verschlossen und unbeholfen im Umgang mit dem anderen Geschlecht, in der Gesellschaft und bei den Arbeitskollegen eher Aussenseiter, verlieben sich in eine Frau, die sich für eine fremde Ideologie engagiert, wollen eine junge Prostituierte und am Schluss gar die ganze Gesellschaft vom Übel befreien …

Das soll kein Aufruf sein, die Filme auch in ihrer Qualität miteinander zu vergleichen: Kaufmann ist nicht Scorsese (und Basman nicht De Niro). Doch irgendwo muss man beginnen mit der Filmkarriere, und der Anfang von Hans Kaufmann ist mehr als verheissungsvoll.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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