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Boys Are Us

Das Mädchen deiner Träume hat dir gestanden, dich nie geliebt zu haben. Dass du nur Teil einer Racheaktion gewesen bist. Was würdest du als Nächstes tun? Sie erschiessen? Dich erschiessen? Oder sie hilflos in den Arm nehmen?

Text: Lux Züst / 24. Apr. 2013

Das Mädchen deiner Träume hat dir gestanden, dich nie geliebt zu haben. Dass du nur Teil einer Racheaktion gewesen bist. Was würdest du als Nächstes tun? Sie erschiessen? Dich erschiessen? Oder sie hilflos in den Arm nehmen?

Das Herz der sechzehnjährigen Mia wurde gebrochen. Nicht wissend, wie sie mit dem Schmerz umgehen soll, schneidet sie sich mit einer Rasierklinge in den Bauch. Ihre neunzehnjährige Schwester Laura jedoch will sich nicht länger ansehen müssen, wie sich Mia quält. Sie ersinnt einen Racheplan, Mias Schmerz soll jemand anderem weitergegeben werden. Die beiden suchen sich im Internet ein passendes Opfer und schreiben ihm ganz unschuldig eine Nachricht. Der Junge heisst Timo und lässt sich leicht täuschen.

So weit, so gut. Nur wird das unschuldige Opfer von drei Schauspielern gespielt. So sehen wir gewisse Szenen drei Mal. Drei Mal dieselben Dialoge. Drei Mal dieselbe Mia. Aber drei verschiedene Timos. Die anfängliche Verwirrung legt sich bald, und man beginnt, sich die einzelnen Timos genauer anzuschauen. Äusserlich könnten sie nicht verschiedener sein. Ein Timo ist blond, die anderen beiden braunhaarig, mit Locken und ohne Locken. Aber dadurch, dass wir manche Szenen nur mit einem der Timos sehen, bekommen sie verschiedene Charakterzüge. Wir nehmen sie anders wahr. Der eine wirkt eher melancholisch und nachdenklich, der andere unsicherer, der dritte scheint älter zu sein als die anderen. Sie alle haben wenig Glück mit Mädchen. Sie arbeiten in einem Callcenter und haben gerade die Rekrutenschule begonnen.

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Erwachsene kommen in diesem Film kaum vor. Die Lehrerin, der Chef, die Psychiaterin. Sie alle spielen kleine, unbedeutende Rollen. Die Mutter der Schwestern bekommen wir nie zu sehen. Sie sei bei ihrem Freund, erklärt Mia. Ihr Vater wird nie erwähnt. Bedeutet diese Abwesenheit von Erwachsenen, dass es sich bei Boys Are Us um einen Jugendfilm handelt? Das Werbeposter des Films sieht aus, als wären jugendliche Mädchen das Zielpublikum. Aber als jugendliche Kinobesucherin kann man sich nicht recht mit der Protagonistin identifizieren. Sie ist eher romantisch veranlagt. In ihrem Zimmer stehen Kerzen, und an der Wand hängt ein «Happy End»-Poster. Gleichzeitig schreibt sie in ihrem Blog, Liebe sei eine Waffe. Man sei Opfer oder Täter. Sie will kein Opfer sein, also muss sie Täterin sein. Über eine dritte Möglichkeit macht sie sich nur ganz kurz Gedanken. Wenn es aber kein Jugendfilm ist, ist es dann ein Film für Erwachsene? Da sich das Geschehen nur in der Welt von Jugendlichen abspielt, ist das eher unwahrscheinlich. Vielleicht ist der Film da, um Erwachsenen die Gedankengänge von Jugendlichen zu erklären. Doch genauso wenig wie es nur Täter und Opfer gibt, sind Jugendliche gleich. Angenehm fällt die Sprache auf. In manchen Schweizer Filmen kann das Schweizerdeutsch ziemlich gekünstelt wirken. Als wären deutsche Sätze Wort für Wort in den Schweizer Dialekt übersetzt worden. In Boys Are Us dagegen ist das Schweizerdeutsch sehr lebensecht. Die Sprache ist auch gut dem Alter der Figuren angepasst worden.

Die Musik ist teils von den Darstellern selbst geschrieben und wird von ihnen vorgetragen. Doch bevor wir Timo singen und Gitarre spielen hören, klingt das Lied bereits aus Mias Laptop. Nur im Hintergrund und in der schlechten Qualität der Lautsprecher des Computers. Wohl ein Zeichen dafür, dass Mia und Timo füreinander bestimmt sind.

Die Darsteller haben alle bereits schon vor der Kamera gestanden oder auf einer Bühne gespielt. Sie wirken alle sehr glaubwürdig und sind talentierte Schauspieler. Die Hauptfigur Mia wird von Joëlle Witschi dargestellt. Sie spielt die wohl anspruchsvollste Figur der Geschichte. Am Anfang ist sie äusserst verzweifelt. Man würde es ihr sogar zutrauen, sich umzubringen. Witschi ist erst sechzehn Jahre alt, schafft es aber, all die Emotionen ihrer Figur glaubhaft zu vermitteln.

Deleila Piasko übernimmt den Part ihrer Schwester Laura. Ihrer Figur wird gar kein Platz gelassen, dazuzulernen. Sie bleibt immer die verbitterte ältere Schwester. Mia schaut zu ihr hoch, wohl vor allem weil ein anderes erwachsenes Vorbild (wie ihre Mutter) fehlt.

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Wie schon mit Der Sandmann genügt es Peter Luisi nicht, nur eine einfache Geschichte zu erzählen. In oben genanntem Film erzählt Luisi die Geschichte eines unzufriedenen Mannes, der beginnt, sich in Sand aufzulösen, sobald er lügt. Der Sandmann ist eine klassische Liebesgeschichte mit Happy End. Ein Mann hat ein ziemlich unrealistisches Problem und muss ein besserer Mensch werden, um das Problem zu lösen. Am Ende sind alle glücklich, und der Protagonist hat gelernt, netter zu sein.

Boys Are Us dagegen ist eine Liebesgeschichte, die von Anfang an unter einem Unglücksstern steht. Für Timo ist es Liebe auf den ersten Blick. Mia beginnt im Verlauf der Geschichte ebenfalls Gefühle für ihn zu entwickeln. Nur setzt Laura alles daran, diese Beziehung zu zerstören. Am Ende ist es keinesfalls ein «… und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute» wie in Der Sandmann.

Viele Filme haben einfach ein Ende, mit dem der Film abgeschlossen wird. Andere haben einen offenen Schluss, bei dem man sich den Rest selbst ausdenken kann. Dieser Film hat drei letzte Szenen. Es sind drei Versionen, wie die Geschichte aufhören könnte. Zwei dieser drei Schlussszenen stehen im klaren Gegensatz zur ganzen Vorgeschichte. Der ganze Film ist sehr realistisch gefilmt. Plötzlich wird jedoch eine Armeewaffe gezogen, geladen und abgefeuert. Mord und Selbstmord. Das ist wenig glaubwürdig.

Lux Züst ist die Gewinnerin des Filmkritik-Workshops, der im Februar 2013 in Zusammenarbeit mit den Schweizer Jugendfilmtagen stattfand.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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