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Willkommen in der Schweiz

Sabine Gisigers Willkommen in der Schweiz erzählt die Geschichte eines gespaltenen Dorfes und zeigt, wie Dokumentarfilm identitätsstiftender sein kann als Politik.

Text: Max Wild / 18. Okt. 2017

«Oberwil-Lieli bietet Ihnen alles, was Sie brauchen: Ein funktionierendes Dorfleben mit über 20 Vereinen, Einkaufsmöglichkeiten, über 50 leistungsfähige Gewerbebetriebe, eine gute Erschliessung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, 2 Kindergärten und die Primarschule mitten im Wald, wunderschöne Spazierwege, gepflegte Landwirtschaftsbetriebe und last but not least eine gesunde Finanzlage und einen der tiefsten Steuerfüsse des Aargaus», schreibt Gemeindeammann Andreas Glarner auf der Gemeindehomepage über sein «Juwel am Mutschellen». Das Schweizer Idyll sieht Glarner aber in Gefahr: Im Jahr 2015 bringt die Migrationswelle rund 40 000 Flüchtlinge in die Schweiz. Der kantonale Verteilungsschlüssel hat Oberwil-Lieli zehn Flüchtlinge zugeteilt. Zehn zu viele für den Nationalratskandidaten der SVP, der sich lautstark weigert diese aufzunehmen und verkündet, die Gemeinde würde lieber die 290 000 Franken Strafgebühr bezahlen. Nebenbei lässt er noch ein potenziell geeignetes Haus für Asylsuchende kur­zerhand abreissen. Etwas mehr als 2000 Einwohner leben in der Gemeinde, rund 300 davon sind Millionäre.

«Als ich den ARD-Beitrag über Oberwil-Lieli und Glarner sah, wusste ich, dass ich einen Dokumentarfilm darüber machen möchte», so Regisseurin Sabine Gisi­ger. Die polemischen Aussagen Glarners waren für sie nicht tolerierbar, das Feld der Flüchtlingspolitik würde sie der SVP nicht einfach so überlassen. Genauso wenig wie die zweite Protagonistin des Dokumentarfilms, Johanna Gündel und ihre IG Solidarität. Die Studentin wird zur massgebenden Gestalt der Opposition und stellt sich Glarner entgegen.

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Willkommen in der Schweiz folgt den dramatur­gischen Regeln der griechischen Tragödie: Der Schau­platz ist mit Ausnahme einzelner Szenen Oberwil-Lieli, die Protagonistin und ihr Antagonist sind schnell vor­gestellt. Der Einschub zweier Chöre, die schweizeri­sche, syrische und jüdische Volkslieder singen, wirkt entschleunigend und spiegelt die Stimmenvielfalt in der Migrationsdebatte wieder. Mit Archivmaterial, das bis ins Jahr 1939 zurückreicht, gewährt Gisiger dem Zuschauer eine Rückschau auf die Schweizer Flücht­lingspolitik. Immer wieder wird dem Publikum gezeigt, worum es bei der Diskussion um Flüchtlinge insgeheim geht: Die Angst vor dem Unbekannten und vor dem Verlust der eigenen Identität.

«Glarner verkörpert für mich eine Version der Schweiz, die es gar nicht mehr gibt: Die Schweiz als friedvolle Oase», sagt Gisiger. Mit Gündel zeige sich aber auch die andere Seite der Schweiz: weltoffen, sozial und humanitär. Und so konstruiert Gisiger eine gleichnishafte Erzählung, mit Oberwil-Lieli als allego­rische Bühne, auf der sie die zerfahrene Migrationsde­batte der Schweiz verhandelt. In Zeiten von Polemik, Echokammern und Informationsflut wählt Gisiger eine lakonische Sichtweise: Sie wertet nicht, sondern beschränkt sich darauf, hinzuschauen, den Personen zuzuhören. Darunter leidet allerdings die Bildästhetik, wenn die Nahaufnahmen der Interviews stereotyp mit Totalen von Oberwil-Lieli abgewechselt werden, was bisweilen an einen Tagesschau-Beitrag erinnert. Das Interesse des Films scheint aber ohnehin woanders zu liegen, nämlich Gündel als auch Glarner Zeit zu geben, ihre Haltungen kundzutun. Eine Frage, die sich die Zuschauer im Film aber immer wieder stellen: Wo bleibt die Stimme der Migrantinnen und Migranten? Bis auf einzelne Gesprächsfetzen bleibt deren Stel­lungnahme aus. «Diesen Entscheid habe ich bewusst gefällt», sagt Gisiger und führt aus: «Ich wollte einen Film über Schweizer machen. Ich hatte den Anspruch einen Spiegel zu konstruieren, in dem das Publikum feststellt, dass man zwar immer über, aber selten mit den Geflüchteten spricht.»

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Im besten Fall wird Gisigers Dokumentarfilm – analog der griechischen Tragödie – zu einem gewaltsamen Erlebnis für die Zuschauer. Im Gegensatz zum gemütlichen Filmkonsum per Stream auf dem heimischen Sofa, von dem man jederzeit zum Kühlschrank oder auf die Toilette kann, ist das Publikum im Kinosaal gezwungen, zuzuhören, auch den hanebüchenen Argumentationen von Andreas Glarner ausgesetzt. Damit liefert Gisiger mit ihrem Film womöglich das, was die hiesigen Politiker nicht mehr schaffen: eine bedächtige Momentaufnahme, um die Schweizer Flüchtlingspolitik einem breiten Publikum darzulegen. Der Film ver­spricht keine Lösungen, bietet dem Zuschauer aber die Möglichkeit, sich eine Meinung zu bilden oder eine bereits bestehende zu hinterfragen. Und der Film stellt unmissverständlich die Gretchenfrage: Was für eine Schweiz wollen wir sein?

Max Wild war Teilnehmer der Critics Academy des Locarno Festival 2017.

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