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Untraceable

Text: Pierre Lachat / 09. Apr. 2008

Es fängt in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an. Eine Inflation einschlägiger Geschichten brandet auf, die nie wieder zurückgeflossen ist. Der literarische wie der verfilmte Mord hat sich dank ihnen multipliziert. Einmal-Täter mit einmaligen Motiven vermochten in neuerer Zeit immer seltener zu genügen und schon gar nicht dem Publikum die Zeit nachhaltig zu vertreiben. Der fortgeschrittene Typus des Serial Killer hat inzwischen die Gattung überrannt. Er soll die Aufregung vervielfachen und die Ungewissheit steigern, bis hin zur bangen Frage, wie manches Mal der Schuldige noch unerkannt davon komme und wann seine wiederkehrende, also rekonstruierbare Vorgehensweise ihn ans Messer liefern wird.

Mord erscheint so weniger als Notbehelf, heisst das, als Mittel zum Zweck oder Folge einer aussergewöhnlichen Situation, sondern mehr als kommunes Suchtverhalten und als ein Ende in sich selbst. Der Wiederholungstäter versieht sein Handwerk, um sich und das Publikum flott mit dem Erwarteten, Vertrauten, sogar Gewünschten zu bedienen. Die zunehmende Zahl der Opfer soll Unterhaltungswert und Nachfrage steigern. Wie viele es werden können, steht gleich schon im Titel von Seven – auch se7en geschrieben –, dem Film von David Fincher aus dem Jahr 1995.

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«Meine Theorie besagt», so schreibt Gilbert Adair in seinem Roman «A Mysterious Affair of Style», «dass die Spannung, die wirkliche Spannung, der eigentliche Suspense einer Detektiv-Geschichte – besonders auf den letzten Seiten – weniger mit der Aufdeckung der Identität des Mörders oder seines Motivs zu tun hat, auch weniger mit dem, was der Verfasser ersonnen hat, und mehr mit der wachsenden Befürchtung im Kopf des Lesers, das Ende werde, nach all der Zeit und Energie, die er in die Lektüre gesteckt hat, einmal mehr enttäuschen. Mit andern Worten, die Spannung ist nichts anderes als die Angst des Lesers, dass nicht der Detektiv versagen wird – er tut es bekanntlich nie –, sondern dass der Autor versagen könnte.»

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Untraceable lässt eben eine solche Befürchtung aufkommen, tut es aber nur, um sie dann zu enttäuschen. Da ist ein Mehrfach-Mörder, der verspricht, früher oder später gestellt zu werden, so, wie es fast allen seines Schlages in so gut wie sämtlichen Filmen von der geläufigen Art ergeht. Routinemässig erklären sie den jeweils Gesuchten für geistes-, psychisch oder anderweitig gestört, und zwar tun sie es spätestens in dem Moment, da die Agenten von Recht und Gesetz seiner habhaft werden. Oftmals ist die Erklärung schon zur Hand, noch ehe das fragliche Individuum auch nur bezeichnet ist.

Ganz anders nun im Film von Gregory Hoblit, der die Taten des Täters zwar keineswegs beschönigt, aber wenigstens versucht, sie zu lesen. Denn es ist wohl so, dass keiner einzig im Wahn mordet, aus praktischen Gründen, weil es ihm nun einmal gerade so passt, oder aus einem sonstigen Handbuch-Motiv. Jede Tötung hat vielmehr ihre symbolische Bedeutung. Umgebracht wird nie nur jemand. In der Gestalt des Opfers hat eine Idee, einer ihrer Vertreter zu sterben.

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Der Unbekannte in Untraceable mordet in der Absicht, der Allgemeinheit einen Spiegel unter die Nase zu reiben. Seht her, ihr seid nicht edler als ich, im Gegenteil, ihr seid meine Komplizen und als solche nur allzu sehr darauf aus, mich tun zu sehen, was ihr alle selber gern tätet. Ich morde für euch und binde jeden, der dafür zu haben ist, in meine Attentate ein. Eure Zustimmung, euer Applaus, das ist mein Auftrag und meine Legitimation. Wir sind in der Schaulust vereint.

Die Techniken heutiger Kommunikation machen eine solche Visualisierung möglich. Jeder kann sich wie durch Plebiszit in den Prozess der Exekution einwählen. Das Geschehen ist allumspannend, und doch bleibt es untraceable, sprich: unaufspürbar. Dank ständig wechselnder fiktiver IT-Identitäten, heisst das, lässt sich weder der Ort der Vollstreckung ermitteln noch die Identität des Veranstalters.

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Der Todgeweihte ist nichts anderes als ein kollektiv dargebrachtes Menschenopfer. Und in seiner entzündeten Phantasie sieht sich der Henker auch schon selber als Exekutierter. Es kommt der Tag, so prahlt er, da wird meinesgleichen live in Fernsehen und Internet vom Angesicht der Erde getilgt. Wir gehen eigentlichen Sternstunden rekordhoher Zuschaltungen entgegen. Auf diese Weise gebärdet er sich als Pionier und Kamikaze des Voyeurismus. Und der Gott, in dessen Zeichen dereinst Ausscheidungsrunden vonstatten gehen sollen, ist zweifellos Merkur. Ihn verehren die Krämer und Bürokraten.

Das historische Vorbild hingegen, dem der Vorreiter nachlebt, ist offensichtlich Herostrat, jener Brandstifter, der auf keinen Fall unberühmt aus dem Leben scheiden mochte. Wissend spielt der Täter mit dem Gegensatz zwischen seiner Anonymität in der schützenden unbegrenzten Leere des IT-Raums und, auf der andern Seite, seiner künftigen Weltberühmtheit als der lange gesuchte und endlich aufgespürte, verurteilte und unschädlich gemachte serial killer. Tot ist er nun, gewiss, aber eine Legende und ein Begründer noch vor seinem letzten Seufzer.

Er wird einiges unter einem Dutzend Menschen auf dem Kerbholz haben, keine gewaltige Zahl. Aber er hat es verstanden, Millionen, die es ihm danken werden, an seinen Verbrechen zu beteiligen und tausende Nachahmer zu inspirieren. Den Vorwurf freilich, ein Unmensch zu sein, weist er zurück an die Adresse der Menschheit.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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