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Novemberkind 06

Novemberkind

Romanze, Roadmovie, Psychostudie und (national)historisches Drama: Novemberkind jongliert mit vielen Erzählebenen und wirkt dabei nicht immer souverän. Um die Kontrolle zu bewahren, flüchtet sich das Drehbuch, das Christian Schwochow gemeinsam mit seiner Mutter Heide Schwochow verfasste, wiederholt in allzu vertraute Erzählmuster.

Text: Stefan Volk / 07. Nov. 2009

Es gibt im deutschen Kino eine Sehnsucht nach Stoffen, in denen die Vergangenheit des eigenen Landes aufgearbeitet wird. Lange Zeit konnte man sich fast sicher sein, dass deutsche Filme, die das Zeug für eine Oscar-Nominierung hatten, in irgendeiner Form den Nationalsozialismus thematisierten. Mittlerweile haben die Nazi-Streifen Konkurrenz von Filmen bekommen, die sich mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen; gerne präsentiert als grenzüberwindende Ost-West-Geschichten. Es ist also durchaus Skepsis geboten, wenn ein Film wie Novemberkind dieses Anforderungsprofil auf ganzer Linie erfüllt. Das riecht ein wenig nach Kalkül und betulichem Betroffenheitskino. Und tatsächlich beginnt Novemberkind wie einer jener Fernsehmehrteiler, in denen man eigentlich Veronica Ferres in der Hauptrolle erwarten würde.

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Soldaten halten Trabis an, lassen sich Papiere zeigen, öffnen Kofferräume. Vom Strassenrand aus beobachtet eine junge Frau, Anne, das Geschehen. Später wird sie dem flüchtigen russischen Soldaten, nach dem gefahndet wurde, bei sich Unterschlupf gewähren. Dann verlieben sie sich ineinander. Im November fliehen sie über die Grenze. Anne lässt ihr fieberndes Baby zurück. Doch dieses in satte Farben ebenso wie in sattsam bekannte Klischees getauchte Erinnerungsszenario bildet nur den Hintergrund für die eigentliche Geschichte, die in der Gegenwart spielt. Auch hier steht eine junge Frau, Inga, im Mittelpunkt. Sie ist Annes Tochter, wuchs bei den Grosseltern auf, glaubt ihre Mutter tot. Mutter wie Tochter werden von Anna Maria Mühe gespielt. Es kommt wohl nur im Kino vor, dass Eltern und ihre Kinder sich derart aufs Haar gleichen. Trotzdem gibt Mühe in dieser Doppelrolle eine gute Figur ab. Dass man das auch wörtlich verstehen darf, liegt daran, dass Schwochow es sich nicht verkneifen konnte, Ingas ausgelassenes Leben dadurch zu illustrieren, dass er sie gemeinsam mit einer Freundin nackt in einen herbstlichen See springen lässt. Noch so ein Ost- und Kinoklischee.

Je länger der Film aber dauert, umso mehr schwimmt er sich frei vom cineastischen und historischen Ballast, den er anfangs mit sich herumschleppt. Robert, ein dubioser Literaturprofessor aus Konstanz, taucht in der Mecklenburger Bibliothek auf, in der Inga arbeitet, sucht den Kontakt mit ihr. Er behauptet, Ingas Mutter in Konstanz in einem Seminar getroffen zu haben, lange nach Annes angeblichem Tod. Diese Nachricht reisst das naive, unbeschwerte Mädchen aus seiner heilen Welt. Völlig verwirrt beschliesst Inga, sich gemeinsam mit Robert auf die Suche nach ihrer Mutter zu machen. Weil aber die Zuschauer mit weiteren Rückblenden stets ein bisschen zu früh über die jeweiligen Hintergründe informiert werden, fällt der detektivische Reiz dieser Spurensuche eher gering aus. Das eigentlich Spannende ist auch nicht die zeitgeschichtliche Dimension, die sich in der Reise vom Nordosten in den Südwesten Deutschlands, von der Vergangenheit in die Gegenwart auftut. Das Herz des Films schlägt vielmehr im Aufeinandertreffen von Inga und Robert.

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Die aufkeimende Romanze zwischen dem unschuldig-fröhlichen Ostmädchen und dem älteren, taktierenden und unaufrichtigen Westprofessor entfaltet unabhängig von möglichen symbolischen Deutungen ihren individuellen Reiz im glaubhaften Zusammenspiel von Anna Maria Mühe und Ulrich Matthes. Das doppelte Spiel, das der Professor mit Inga treibt und über das er selbst immer mehr die Kontrolle verliert, wirft darüber hinaus grundsätzliche Fragen nach dem Wesen von Identität und Wahrheit auf. Denn je näher Inga der Wahrheit kommt, umso mehr verwandelt sich ihr bisheriges Leben in eine Lüge. Am Ende aber entdeckt Inga, dass in dieser Lüge für sie persönlich vielleicht mehr Wahrhaftigkeit steckte als in den Fakten und Tatsachen, mit denen sie sich nun konfrontiert sieht. Trotzdem gibt es für sie kein Zurück mehr zur Lüge und ihrem alten Leben. Aus dem nackt im Wasser planschenden Backfisch ist eine melancholische, aber selbstbewusste Frau geworden. Erwachsenwerden tut weh und gut zugleich. Und ist ebenso unvermeidlich und notwendig wie die oft schmerzliche, aber auch heilsame Bewältigung historischer Vergangenheit.

Romanze, Roadmovie, Psychostudie und (national)historisches Drama: Novemberkind jongliert mit vielen Erzählebenen und wirkt dabei nicht immer souverän. Um die Kontrolle zu bewahren, flüchtet sich das Drehbuch, das Christian Schwochow gemeinsam mit seiner Mutter Heide Schwochow verfasste, wiederholt in allzu vertraute Erzählmuster. Heide Schwochow hatte zuvor das Drehbuch zum Kinderfilm Marta und Der fliegende Grossvater (2006) geschrieben und schon in der DDR als Regisseurin und Autorin für Kinderhörspiele gearbeitet. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie es gewohnt ist, für ein junges Publikum zu pointieren, dass in Novemberkind manche Einstellung überdeutlich ausfällt; fast plakativ, an der Grenze zur Rührseligkeit. Wenn Inga beispielsweise unterm Fenster ihrer Grosseltern kauert und von draussen heimlich einen wehmütigen Blick in das biedere Idyll ihrer Kindheit wirft, passt das eher zu Märchen oder Melodramen als zu authentischem Gegenwartskino. Doch, auch wenn die Inszenierung der sich überlagernden Erzählebenen an der einen oder anderen Stelle missglückt, setzt dies doch eine aussergewöhnliche Vielschichtigkeit voraus.

Um also nicht missverstanden zu werden: Novemberkind ist trotz mancher Trivialitäten und einiger Längen ein richtig guter Film; sorgsam fotografiertes, behutsam erzähltes Autorenkino, unterhaltend, tiefgründig, einfühlsam. Man merkt aber eben auch, dass es noch besser gegangen wäre.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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