Filmbulletin Print Logo
Nothing personal 01

Nothing Personal

Text: Michael Ranze / 14. Apr. 2010

Was für ein lakonischer Beginn! Eine junge, rothaarige Frau sitzt im Fenster ihrer leergeräumten Amsterdamer Wohnung und sieht auf den Bürgersteig hinab, wo Passanten aus den achtlos bereitgestellten Möbeln Mitnehmenswertes auswählen. Währenddessen streift sie langsam ihren Ehering ab. Mehr wird der Zuschauer über ihre Vergangenheit nicht erfahren. Eine Scheidung? Ein Schicksalsschlag? Schon in der nächsten Szene ist die junge Frau in Connemara, einer menschenleeren, rauhen, gleichwohl atemberaubend schönen Provinz im Westen Irlands, angelangt. Die notwendigen Alltagsgegenstände führt sie in einem Rucksack mit sich, übernachten tut sie im Zelt. Mit nur wenigen Bildern skizziert die polnische Regisseurin Urszula Antoniak, die auch das Drehbuch schrieb, die Flucht (oder den Neuanfang) einer jungen Niederländerin, von der wir erst sehr viel später – und dann auch nur flüchtig und nebenbei – erfahren werden, dass sie Anne heisst. Im Folgenden wird es um Einsamkeit gehen, um Freiheit, um selbstgewählte Einsamkeit also, aber auch um Empathie, Neugier auf den anderen und Nähe. «Loneliness», «End of a Relationship», «Marriage», «The Beginn of a Relationship» und «Alone» sind die fünf Kapitel überschrieben, in die Antoniak ihren Film unterteilt hat. Nothing Personal präsentiert diesen Prozess der menschlichen Annäherung in umgekehrter Reihenfolge, da der Film – ähnlich wie Antonionis L’eclisse – mit dem Ende einer Beziehung beginnt. Wobei der Begriff «Marriage» nicht wörtlich gemeint ist. Er steht für Vertrautheit mit einer anderen Person.

Nothing personal 04

Anne streunt scheinbar ziellos durch die Landschaft. Sie wühlt in Müllkörben nach Essbarem, verweigert schroff die Hilfe anderer und erträgt auch nicht die Nähe in einem Auto, als sie doch einmal widerwillig trampt. Immer wieder der misstrauische Blick auf den linken Arm des Mannes, der die Kupplung bedient, und dann springt sie in voller Fahrt aus dem Jeep, dem Rucksack hinterher. Nein – diese Frau will ihre Ruhe haben. Darum hält sie sich die Menschen vom Leib. Eines morgens entdeckt Anne von einer Anhöhe aus ein abgelegenes Cottage. Sie geht hinunter, setzt sich auf die Bank davor und begegnet dem Besitzer, einem Witwer um die Sech zig. Anne wird sich weigern, ihren Namen zu sagen, der Witwer heisst Martin. Doch auch das erfahren wir erst im letzten Drittel des Films. «Hey du!» wird er sie fortan rufen, wenn er ihr etwas mitteilen will. Sie stimmt zu, Martin im Garten zu helfen, wenn er ihr als Lohn zu essen gibt. Aber: keine Fragen, keine Namen, keine Lebensgeschichten. «Nothing Personal» eben. Anne wohnt weiter in ihrem Zelt, die Mahlzeiten nimmt sie auf besagter Bank zu sich. Wie die beiden Einzelgänger sich zunächst wie gleiche Magnetpole abstossen, um sich dann immer näher zu kommen – davon handelt Antoniaks Film.

Lotte Verbeek spielt diese einsame, verhärtete Frau mit versteinertem Gesicht und ganz wenigen Gesten. Ihre Schönheit, die durch ihr feuerrotes Haar noch zusätzlich in den Mittelpunkt des erotischen Interesses rücken könnte, will darum nie durchscheinen. Kaum einmal, dass sie etwas sagt oder aus sich herausgeht. Der Wutausbruch, mit dem sie den Autofahrer vertreibt, wirkt deshalb um so beklemmender. Wie dann aber der harte Gesichtsausdruck und die automatische Abwehr Schritt für Schritt dahinschmelzen (erst ein künstliches Lächeln, dann ein ehrliches bis hin zu offener Lebensfreude bei einem Kneipenbesuch) und sich auch die Angst vor körperlicher Nähe legt – das ist ganz grosses Schauspielerkino. Zurecht wurde Verbeek, gerade mal siebenundzwanzig Jahre alt, dafür 2009 in Locarno als Beste Darstellerin ausgezeichnet und bei der diesjährigen Berlinale zum Shooting Star gekürt.

Nothing personal 05

Martin, von Stephen Rea zurückhaltend, fast ein wenig steif gespielt, fast so, als wolle er Verbeek noch mehr Raum zur Entfaltung geben, ist so etwas wie das komplementäre Gegenstück zu Anne. Er wohnt geborgen in einem alten Haus, umgeben von der Natur, die ihn auch ernährt und zum Lebensunterhalt beiträgt. Auch er lebt nach dem Tod seiner Frau allein, und doch verweigert er sich nicht der Zivilisation. Er besitzt zahlreiche Bücher, hört klassische Musik und achtet auf gutes Essen. «Nothing really disappears. Everything continues in the world of humans», hat er in einem Buch unterstrichen. «In the world of humans» – Martin fühlt sich, im Gegensatz zu Anne, der Gesellschaft zugehörig. Es wird aber die Musik sein, über die der alte Mann und die junge Frau ihre Seelenverwandtschaft ausmachen. Er schenkt ihr einen Walkman, sie singt ihm auf deutsch ein Lied aus Schuberts «Winterreise» vor. Von nun an beobachtet der Film fast dokumentarisch die beiden bei der Arbeit: Torf stechen, Krebse fangen, Unkraut jäten, Seetang sammeln, Essen kochen.

Dabei scheint die melancholische Schönheit und Einsamkeit der irischen Landschaft, von Kameramann Daniel Bouquet bewundernswert eingefangen, die Gemütslage der Protagonisten zu spiegeln. Einmal läuft Anne ganz klein von links nach rechts über ein Torffeld, bei der Autofahrt verwischen die vorbeirasenden Bäume zu einem bedrohlichen Ungetüm, nebelverhangene Berge verweigern jede Sicht. Worte sind hier gar nicht nötig. Man weiss auch so um die Verletztheit der Figuren.

Kurz vor Ende des Films verleben Anne und Martin einen vollkommenen Tag miteinander: Er kauft ein, sie macht den Haushalt, später arbeiten sie gemeinsam im Garten und essen zu Abend. Stellvertretend steht dieser Tag für das Leben, das die beiden vielleicht miteinander führen könnten. Doch da hat Martin bereits eine folgenschwere Entscheidung getroffen.

Nothing personal 02

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

07. Mär. 2016

Our Little Sister/Umimachi Diary

Leben und Tod, auf diese existenzielle Zweisamkeit ist auch die Handlung von Hirokazu Kore-edas Film aufgebaut, was simpel klingt, aber doch alles beinhaltet, was unser Bewusstsein beschäftigt.

Kino

05. Nov. 2014

Winter Sleep / Kis Uykusu

Unbedingt will Aydin, einst ein gefeierter Schauspieler auf den Theaterbühnen Istanbuls, jetzt ein Mann fortgeschrittenen Alters, der in der zentralanatolischen Provinz ein Hotel betreibt und einige Mietshäuser verwaltet, seine Frau Nihal dabeihaben, wenn er seine grossartige Idee verkündigt. Einen Brief hat er erhalten, von einer Dorfschullehrerin, die ihn bittet, er solle doch unterstützend eingreifen, weil der Betrieb einer Volkshochschule gefährdet sei.

Kino

11. Mär. 2015

Als wir träumten

Mit einem symbolträchtigen Einstieg beginnt Andreas Dresens Verfilmung von Clemens Meyers 2006 erschienenem, erkennbar autobiografisch gefärbtem Debütroman über Jugendliche im tristen Randmilieu einer ostdeutschen Grossstadt, die in den frühen Jahren der Nachwendezeit den Halt und die Orientierung verloren haben. Erzählt wird die Geschichte einer Freundesclique in den Jahren 1989 bis 1995.