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Sister 01

Sister

Einiges in Sister erinnert an Ursula Meiers letzten grossen Spielfilm Home. Nicht nur der Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein, der hier den Simon spielt und wieder mit grosser Unmittelbarkeit brilliert. Auch dieses graue Niemandsland zwischen Durchfahrtsstrasse und weiten Feldern, das in Home so eine wichtige Funktion einnahm und das auch hier wieder das Setting für die kleine Schicksalsgemeinschaft bildet.

Text: Doris Senn / 25. Apr. 2012

Ein schlaksiger Junge mit schmalem Gesicht und grossen Ohren streift an der Bergstation eines Skiorts um die Restaurants. Er ist auf der Suche nach unbeaufsichtigten Skis, nach Rucksäcken, Skibrillen, Jacken und Handschuhen, die er mitlaufen lässt. In der engen Toilette dann sortiert er seine Ausbeute. Er verdrückt die hausgemachten Sandwichs aus den geklauten Rucksäcken und studiert Werbeprospekte, um sein Auge für die neusten und teuersten Skimarken zu schärfen. Einen Teil des Diebesguts versteckt er in Verschlägen und unterm Schnee – wie ein Hund, der seine Knochen an einem sicheren Ort vergräbt, um sie für später aufzuheben. Mit dem Rest – das, was er tragen kann – fährt Simon allein mit der Gondel talwärts, wo er bei der Seilbahnstation eine Art Garderobe eingerichtet hat. Dann packt er seine Beute auf einen Schlitten, überquert die Schnellstrasse, ein Brachfeld, den Parkplatz, um auf ein isoliertes Hochhaus zuzusteuern: ein hässliches Teil in einer gesichtslosen Vorortssiedlung. Dort lebt Simon mit seiner Schwester Louise. Dort verkauft er seine Sachen an seine Kumpels.

Einiges in Sister erinnert an Ursula Meiers letzten grossen Spielfilm Home. Nicht nur der Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein, der hier den Simon spielt und wieder mit grosser Unmittelbarkeit brilliert. Auch dieses graue Niemandsland zwischen Durchfahrtsstrasse und weiten Feldern, das in Home so eine wichtige Funktion einnahm und das auch hier wieder das Setting für die kleine Schicksalsgemeinschaft bildet. So unwirtlich die Umgebung, so schutzlos die eigenwillige «ménage à deux» von Simon und Louise, die mehr auseinanderdriftenden Satelliten ähneln denn einem familiären Verbund.

Sister 02

Die Story des Films entrollt sich als Reihe von lockeren Episoden über die Zeit einer Skisaison von Weihnachten bis Ostern. Der Suspense des Films nährt sich aus dem illegalen Treiben Simons und dem Geheimnis um Simon und Louise. Ein Geheimnis, das sich im Lauf der Handlung unvermittelt erschliesst, einen Moment lang den Film wie stillstehen lässt, um uns einen neuen Blick auf die Geschehnisse zu geben und den Erzählfaden in eine neue Richtung sich entwickeln zu lassen.

Diese emotionalen Kernszenen spielen sich insbesondere vor dem Kontrast von Oben und Unten, von Berg und Talebene ab. Nicht zuletzt deshalb nennt Ursula Meier – im Gegensatz zu ihrem vorangehenden Film Home, der sich in einer endlosen Ebene abspielte und den sie als «horizontalen» Film bezeichnete – ihren neuen Film als «vertikal». Und dies sowohl landschaftlich – oben die imposanten Berggipfel, das Ski-Halligalli, unten das schneelose Tal – als auch sozial: in der sonnenbeschienenen Höhe die sorglose (Traum-)Welt der reichen Skitouristen, der intakten Kleinfamilien, unten die prekäre Alltagsrealität von Simon und Louise. Kacey Mottet Klein spielt «das Kind von oben» (L’enfant d’en haut ist der französische Originaltitel des Films) unglaublich facettenreich: mal gewiefter kleiner Dieb, der ohne Gewissensbisse alles einpackt, was er verwerten kann – mal verletzlicher kleiner Junge, der in einer englischen Touristin die sehnlichst vermisste Mutterfigur erkennen will – mal umsichtig und fürsorglich, wenn er sich um seine ältere Schwester – eine grossartige Léa Seydoux – kümmert (kümmern muss) und mit seinen Diebestouren für ihr beider Auskommen sorgt.

Sister 03

Wie schon in ihren bisherigen Filmen gelingt es Ursula Meier einmal mehr, mit minimalsten Mitteln einen sozialen und emotionalen Mikrokosmos von ungeheurer Intensität zu kreieren: So liess sie schon in ihrem frühen Kurzfilm Tous à table (2001) in einer kleinen Tischrunde die Gefühle hochgehen, oder sie beschrieb im TV-Drama Des épaules solides (2002) die klaustrophobe Welt rund um die Heranwachsende Sabine, die in ihrem sportlichen Ehrgeiz alles andere – letztlich sich selbst – aus den Augen verliert. Oder die fast schon unheimlich harmonische Kleinfamilie in Home, die sich fernab von allem als heile Welt etabliert und deren Mitglieder zu den scheinbar einzigen Überlebenden in einem apokalyptischen Universum werden. In Sister nun taucht Ursula Meier mit grosser Einfühlsamkeit in die Welt von Simon ein: in seine Einsamkeit, seine Suche nach Geborgenheit und familiärer Wärme, seine kurzen Momente der Verbundenheit mit anderen, seine Traurigkeit, aber auch seinen Überlebenswillen. Simon, der kleine Junge, und Louise, die junge Erwachsene – die sich beide nach Geborgenheit sehnen und beide leer ausgehen. Ja: sich fast gegenseitig im Weg stehen.

Zu der Intensität, welche die an sich unspektakulären Ereignisse in Meiers Film gewinnen, trägt insbesondere die unaufdringlich-agile Kameraführung der vielfach preisgekrönten Agnès Godard viel bei, die als Kamerafrau von Claire Denis zu Berühmtheit gelangte und die schon in Home für die Kamera zeichnete. Godard findet die richtige Mischung zwischen Dynamik – die uns in die engsten Räume miteinbezieht oder etwa in die physischen Rangeleien zwischen Simon und Louise – und ruhigen, statischen Einstellungen, welche die Weite (und Verlorenheit) einfangen, in der die beiden Hauptfiguren je auf ihre Weise versuchen, nicht unterzugehen. Unterstützt wird sie durch die Musik von John Parish, der immer wieder die Bilder einen Moment lang dem dramaturgischen Fluss entrückt oder durch kurze Momente der Lautlosigkeit den Film augenblicksweise in der Schwebe hält.

Godards Bilder schaffen es auch, die hiesige Bergwelt selten nüchtern und abgeklärt ins Filmbild zu rücken: Zuerst hat der Film gar keinen Blick dafür – sehen wir doch die Welt mit Simons Augen, und dessen Aufmerksamkeit wiederum gilt nur prall gefüllten Rucksäcken, teuren Accessoires und angesagten Skimarken. Dann, erst zum Ende des Films, sehen wir die Landschaft – bei Saisonschluss: Simon ist ausgebüxt, hat sich mit einer der letzten fahrenden Gondeln in die Höhe tragen lassen – an den Ort, der, eben noch voller Trubel, nun verlassen daliegt, wund geschabt von den zahllosen Skifahrern: eine versehrte Natur, deren Oberfläche von braunen Streifen durchzogen ist, wo sich während der Touristensaison die Pisten entlangschlängeln. Eine geschundene Landschaft – die viel Ähnlichkeit hat mit der wunden Seele unseres Protagonisten Simon.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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