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Hanezu

Die Bilder in Hanezu sind atmosphärisch sehr dicht. Kawase führt die Kamera selbst und betont Farben, Oberflächen und die Materialität der Dinge: die Griffigkeit von Leinenstoff, die vom Regen aufgeweichte Erde, das frisch geschliffene Holz. So entsteht ein schlichtes und sinnliches, haptisches Kino, das durch den Gebrauch einer leichten, digitalen Handkamera aus einer persönlichen, intimen Perspektive gefilmt scheint.

Text: Natalie Böhler / 25. Juli 2012

Eine Frau lebt mit einem Mann und liebt einen anderen: eine der ältesten Geschichten der Welt. Die japanische Regisseurin Naomi Kawase erzählt das Dreieck zwischen der Textilfärberin Kayoko, dem Werber Tetsuya und dem Aussteiger Takumi jedoch so, dass weniger die Menschen, sondern die Natur die eigentliche Hauptrolle spielt. Während sich der Plot nur in Zeitlupentempo und ganz leise entwickelt, ruht die Kamera auf der Landschaft und auf Details; der Regen fällt, die Bäume wiegen sich im Wind, der Salat im Garten wächst, der Bach rauscht. Off-Stimmen erzählen flüsternd eine Legende von zwei Bergen, die beide einen dritten lieben und einander bekämpfen. Der Mond geht auf und unter.

«Hanezu» ist ein altes Wort für einen Rot-Ton; es stammt aus dem Manyoshu, einer japanischen Gedichtsammlung aus dem achten Jahrhundert, und ist heute nicht mehr üblich. Rot hat viele Gesichter, es kommt im Film kräftig leuchtend vor, aber auch als feines Rosa, und bedeutet je nachdem Liebe, Feuer, Blut, Gewalt. Wie die Farbe Rot nimmt auch die Natur viele Formen und Erscheinungsweisen an, von lieblich bis zerstörerisch. Alles ist im Fluss und wandelt sich, im Kreislauf der Natur wird Ewigkeit erahnbar: Das ruhige, besinnliche Verweilen der Kamera auf Naturdetails und der langsame Rhythmus des Films schaffen eine Atmosphäre von meditativem Gleichmut – auffällig oft wird Hanezu mit Terrence Malicks Tree of Life verglichen. Die Vernetzung alles Lebenden ist allem übergeordnet. Die Leidenschaften der Figuren, ja die Dreiecksgeschichte als Ganzes und ihre Dramatik werden dadurch letztlich beinahe zweitrangig oder, wie Kawase es selbst nennt, Nebendarsteller – ein Effekt, der gleichzeitig innovativ ist, aber erzähltechnisch auch etwas problematisch, weil als Folge die Empathie mit den Figuren etwas gar kurz kommt und der Plot immer stärker Gefahr läuft, das Interesse des Publikums zu verlieren.

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Auch die Familie spielt eine Rolle im Kreislauf der Natur und der Geschichte. Auf der Suche nach wegweisenden Antworten auf ihre Lebensfragen besuchen sowohl Kayoko als auch Tetsuya ihre Eltern, die von eigenen, lang zurückliegenden Liebeswirren berichten: Auch vertrackte Lebenslagen gehen vorüber, scheint es; alles ist bloss eine Frage der Zeit. Die Familie als Thema ist im Werk Kawases von Beginn an zentral. Ihre frühen experimentellen Dokumentarkurzfilme kreisen um ihre Kindheit, die sie bei ihrer Grossmutter verbracht hat, um die Suche nach dem unbekannten Vater und um die Natur als spiritueller Ort, der einem Verwurzelung im Alltag ermöglicht und den Kontakt mit den Ahnen. Auch Kawases letzter Spielfilm Mogari no mori, für den sie den Grand Prix von Cannes gewann, dreht sich um das Knüpfen von zwischenmenschlichen Beziehungen und die Natur, die über Verluste hinwegtröstet.

So kommt es nicht von ungefähr, dass die Bilder in Hanezu atmosphärisch sehr dicht sind. Kawase führt die Kamera selbst und betont Farben, Oberflächen und die Materialität der Dinge: die Griffigkeit von Leinenstoff, die vom Regen aufgeweichte Erde, das frisch geschliffene Holz. So entsteht ein schlichtes und sinnliches, haptisches Kino, das durch den Gebrauch einer leichten, digitalen Handkamera aus einer persönlichen, intimen Perspektive gefilmt scheint.

Hanezu entstand und spielt in Nara, der Heimatstadt Kawases. Hier spielen die meisten ihrer Filme; hier entstand das «Manyoshu», aus dem das titelgebende Wort stammt. Nara war damals Sitz des Kaiserhofs und das kulturelle Zentrum Japans, heute ist die Gegend geprägt durch Traditionen und Geschichte. Die Kultur der Nara-Periode zeichnet sich durch einen starken Naturbezug aus, an den Hanezu anknüpft.

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Dem Manyoshu-Gedichtzyklus (wortwörtlich: «die Sammlung der zehntausend Blätter») kommt eine spezielle Bedeutung zu: Als erste grosse japanische Gedichtanthologie der vorklassischen Zeit wird er heute als Träger nationaler Werte verstanden, als «besonders japanische» Literatur. Durch das Naturthema, das Setting Nara als Geburtsstätte des heutigen Japan und den Filmtitel, der auf ein Werk der Nationalliteratur verweist, entsteht ein kultureller Symbolismus: Kawase scheint an einen urtümlichen, spezifisch japanischen – was auch immer das heissen mag – Bezug zur Natur erinnern zu wollen. Ob man dies als traditionsbewusst oder als nationalistisch verstehen soll, ist nicht ganz klar.

Hanezu beginnt und endet mit Aufnahmen von Ausgrabungen in der Nara-Region. Auf langen Förderbändern fahren Erdbrocken auf das Publikum zu. Der Film, so ein Zwischentitel, sei den vielen unbekannten Seelen gewidmet, die in früheren Zeiten hier gelebt haben. Die Erinnerung an die Ahnen, die Nähe der Toten, die Vergänglichkeit der Zeit: Das Filmende erscheint wie ein Echo auf die Erschütterungen und Traumata, die Japan 2011 durch die Natur- und Atomkatastrophen erfuhr und die bis heute fortwirken. Vielleicht möchte Kawase eine Rückkehr zum Vertrauen in die Natur evozieren, die zerstörerisch sein kann, aber auch tröstet und Geborgenheit schenkt; vielleicht möchte sie an einen ganzheitlichen, respektvollen Umgang damit nach traditionellem Vorbild gemahnen. Der Film liefert keine eindeutigen Hinweise darüber, sondern vertraut auf die Wirkung seiner Details.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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