Filmbulletin Print Logo
Shanghai 01

Shanghai, Shimen Road

Eine Auseinandersetzung mit einer Heimat in widersprüchlichen Zeiten: Shanghai, Shimen Road reiht sich ein in die Werke der sechsten Generation chinesischer Filmschaffender, mit ihren Geschichten über den Alltag kleiner Leute, ihrem dokumentarischen Gestus und ihrer Beschäftigung mit dem zeitgenössischen China und den Folgen der Kulturrevolution

Text: Natalie Böhler / 23. Jan. 2013

Eine enge Gasse in Schanghai – alte Backsteinhäuser aus den dreissiger Jahren, Wäscheleinen, Schnappschüsse der Nachbarschaft. Shanghai, Shimen Road beginnt mit schwarzweissen Standbildern, eingefrorenen Augenblicken, bevor die Bilder in Bewegung geraten und farbig werden. Dazu hören wir die Erzählstimme von Xiaoli, der sich an diese Fotos erinnert, die er mit siebzehn Jahren gemacht hat. Die Kamera hatte ihm damals seine Mutter geschickt, die in die USA ausgewandert ist und der er bald nachreisen soll.

So beginnt eine Jugendgeschichte in Schanghai, Ende der achtziger Jahre. Obwohl diese Zeit erst etwa zwanzig Jahre zurückliegt, sind die Umbrüche, die China seither durchgemacht hat, immens und vielschichtig. Der rasante ökonomische, soziale und kulturelle Wandel zeigt sich auch im Städtebild: Das pittoreske Quartier von damals, das Xiaolis Heimat war, zerfällt heute langsam, und binnen kürzester Zeit sind ganze neue, futuristische Stadtteile in die Höhe geschossen. Mit der äusseren hat sich auch die innere Geografie der Menschen grundlegend verändert; sie sind weggezogen, haben sich neu ausgerichtet. Die engmaschige, vertraute Welt der Nachbarschaft hat sich aufgelöst.

Haolun Shu erzählt in seinem Langspielfilmdebüt von den tiefgreifenden Entwicklungen eines Landes in einer persönlichen, individuellen Geschichte, die autobiografisch gefärbt ist. Die klassische Coming-of-Age-Erzählung schildert Xiaolis Erwachsenwerden auf romantischer und auf politischer Ebene, verknüpft mit zwei Frauenfiguren. Da ist zum einen die schöne, etwas ältere Nachbarin, die in ihm aber eher einen jüngeren Bruder sieht und sich vor allem für ihr eigenes Wohl interessiert, zum andern die aufgeweckte Studentin aus Peking, die sich politisch engagiert. Zwischen diesen Positionen, die den Gegensatz zwischen dem mondänen, kosmopolitischen Schanghai und dem traditionelleren, politisch orientierten Peking verkörpern, versucht nun Xiao-li seinen Platz zu finden.

Shanghai 02

Eine Auseinandersetzung mit einer Heimat in widersprüchlichen Zeiten: Shanghai, Shimen Road reiht sich ein in die Werke der sechsten Generation chinesischer Filmschaffender, mit ihren Geschichten über den Alltag kleiner Leute, ihrem dokumentarischen Gestus und ihrer Beschäftigung mit dem zeitgenössischen China und den Folgen der Kulturrevolution. Ebenso zentral ist das Thema des Bildermachens – des Filmens und Fotografierens – und der Zensur. Aufgewachsen ist diese Generation mit dem Wissen um das Tiananmen-Massaker, zwischen der fehlgeschlagenen Forderung nach Demokratie und der Öffnung Chinas hin zur globalisierten Wirtschaftswelt.

Für einmal werden die Studentenunruhen und das Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz nicht direkt wahrgenommen, sondern aus einer Randposition: aus einer anderen Stadt und von einem, der eigentlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist. Das grosse Ereignis erlebt Xiaoli lediglich als Radionachricht und als blechern tönende Durchsage aus einem öffentlichen Lautsprecher, die mitten im Satz abbricht. Trotzdem hat sich sein Leben verändert, die weite Welt ist in die enge Gasse seiner Kindheit eingebrochen. Mit viel Aufmerksamkeit fürs Detail zeigt Shu die Patina dieser Epoche, die bald schon im Verschwinden begriffen sein wird: das verwitterte Holz der Häuser, die alten Möbel, die Popsongs der Achtziger. Bei aller leisen Melancholie aber beweist der Film eine differenzierte Wachheit gegenüber der Komplexität der jüngsten Zeitgeschichte.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

28. Juli 2010

Ajami

In Ajami, einem ärmlichen Viertel von Tel Aviv, in dem arabische und jüdische Israelis, Christen und Muslime dicht nebeneinander leben, hängt eine ständige Anspannung in der Luft. Im rauen Alltag von fünf unterschiedlichen jungen Männern droht eine unkontrollierbare Gewalt, den letzten Hoffnungsschimmer zu erlöschen. – roh und unmittelbar.

Kino

01. Mär. 2017

Loving

Loving ist nicht nur ein Liebesfilm, sondern auch ein wunderbar stiller Versuch eines Oscar-tauglichen Geschichtsfilms über ein Paar, das im Bundesstaat Virginia wegen unterschiedlicher Hautfarbe nicht heiraten darf und es trotzdem tut.

Kino

20. Apr. 2016

Tinou

«Je bois sans y prendre plaisir» singt Boris Vian. Getrunken wird viel in Res Balzlis Spielfilmdebüt Tinou. Der gleichnamige Protagonist kann sich in der Tat nicht mehr unbeschwert ein Gläschen gönnen, denn er leidet an einer Leberzirrhose. Balzli lässt Gegensätze aufeinanderprallen, den grauen Alltag im verschneiten Bern und die Farbexplosion im Traum, der Tinou nach Afrika führt.