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The Story of Film

In seinem fünfzehnstündigen Dokumentarfilm geht es Marc Cousins darum, «die Innovationen zu finden, die Leute, die diese grossartige und unbeschreibliche Kunstform Kino zum Leben erwecken» und darum, «die Filmgeschichte, wie wir sie in unseren Köpfen haben, neu zu skizzieren. Sie ist sachlich ungenau und in ihren Auslassungen rassistisch», wie er es in der Einleitung formuliert.

Text: Frank Arnold / 25. Sep. 2013

Der 1965 in Nordirland geborene und in Edinburgh ansässige Mark Cousins ist Filmhistoriker und Dokumentarfilmer. Zudem organisiert er, gemeinsam mit Tilda Swinton, seit Jahren das kleine mobile Pilgrimage-Filmfestival in Schottland. In der britischen Filmzeitschrift «Sight and Sound» nutzt er seine Kolumne «Dispatches», um dem Leser die weissen Flecken auf der Weltkarte der Kinematografie zu erschliessen oder auf Festivals entdeckte Filme vorzustellen, die dazu beitragen, die Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums weiterzuentwickeln.

Auch in seinem fünfzehnstündigen Dokumentarfilm The Story of Film: An Odyssey geht es Cousins darum, «die Innovationen zu finden, die Leute, die diese grossartige und unbeschreibliche Kunstform Kino zum Leben erwecken» und darum, «die Filmgeschichte, wie wir sie in unseren Köpfen haben, neu zu skizzieren. Sie ist sachlich ungenau und in ihren Auslassungen rassistisch», wie er es in der Einleitung formuliert.

Der Film basiert auf Cousins’ Buch «The Story of Film», (2004 erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt – allerdings nicht ins Deutsche) und erzählt eine Geschichte des Films von den Anfängen bis heute, chronologisch geordnet nach Epochen und Ländern. Aber Cousins gelingt es immer wieder, aufschlussreiche Verbindungslinien herzustellen, indem er oft zu zeitlich kühnen Sprüngen vor und zurück ansetzt. Etwa wenn er Buster Keatons deadpan-Inszenierung mit der von Elia Suleiman in Intervention Divine in Bezug setzt oder von Yasujiro Ozus niedrigem Kamerastandpunkt zu dem in Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles von 1975 springt.

Klassische Meilensteine der Filmgeschichte kommen ebenso vor wie vergessene Werke und Pioniere, zumal aus nationalen Kinematografien, die weit von Hollywood entfernt sind. Cousins hat keinen Anti-Hollywood-Film gemacht, er rückt nur einiges zurecht. Etwa wenn er auf eine erstaunliche Verwendung der Tiefenschärfe in Osaka Elegy von Kenji Mizoguchi aus dem Jahr 1936 hinweist, die fünf Jahre vor Orson Welles’ Citizen Kane entstanden ist, aber eben nicht dieselben Folgen zeitigte. Oder wenn er mit Ruan Lingyu eine chinesische Schauspielerin vorstellt, die in den dreissiger Jahren ein grosser Star war, an den sich heute noch einige ältere Frauen in China erinnern, aber 1938 im Alter von fünfundzwanzig Jahren Selbstmord beging (ihr Begräbnis war ähnlich spektakulär wie das von Rudolph Valentino). Überhaupt wird die Rolle von weiblichen Filmschaffenden immer wieder, bestimmt, aber unaufdringlich, ins Licht gerückt, von der produktiven Hollywood-Autorin Frances Marion über die früh verstorbene Iranerin Farough Farrokhzad bis zu der Afrikanerin Safi Faye und den Russinnen Larissa Schepitko und Kira Muratowa.

Zwischen den Filmausschnitten kommen höchst beredte Zeitzeugen zu Wort: der Produzent, Regisseur und Schauspieler Norman Lloyd etwa, der mit Alfred Hitchcock, Orson Welles und Jean Renoir arbeitete; Paul Schrader, der in verschiedenen seiner Drehbücher und Regiearbeiten Hommagen an die Meister des Kinos einbaute, über die er zuvor mit «Transcendental Style in Film. Ozu, Bresson and Dreyer» eine philosophietheoretische Arbeit verfasst hatte; der ägyptische Altmeister Youssef Chahine, dessen vor fünf Jahren aufgezeichnete Statements wie eine prophetische Vorwegnahme der arabischen Revolution von 2011 wirken. Cousins filmte die Interviewpartner in langen Einstellungen, die Totalen vermitteln auch einen schönen Eindruck der Wohnräume der Befragten. Das grösste Verdienst der Arbeit ist abe, dass die rund tausend Filmausschnitte nie nur illustrierend eingesetzt werden. Cousins hat sie vielmehr höchst sorgfältig ausgewählt und erläutert an ihnen die jeweilige Inszenierung und wie diese die Entwicklung der Filmsprache vorangetrieben hat. Denn das ist die zentrale Fragestellung des Films: Wo entwickelt sich Kino weiter? Wo werden Innovationen sichtbar? Mark Cousins mit seinem Enthusiasmus und seiner Entdeckerfreude ist genau der richtige Reiseleiter für dieses «globale Roadmovie».

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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