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The Wolf of Wall Street

Geld, Gier, Drogen, Alkohol und Sex: Martin Scorseses Blick hinter die Kulissen der Wall Street ist eine burleske Show, laut, geschäftig, wild, ungestüm, komisch, mit aussergewöhnlicher Virtuosität inszeniert. Und in jeder Hinsicht besonders.

Text: Michael Ranze / 22. Jan. 2014

Seit fast einem halben Jahrhundert macht Martin Scorsese, inzwischen einundsiebzig Jahre alt, jetzt schon Filme, eine bewundernswerte Karriere, die aber auch immer eine andere Seite hat. Scorsese verfolgt mit dem Kino auch seine privaten Interessen, in seinen Dokumentationen über das amerikanische und italienische Kino etwa, aber auch über zeitgenössische Musik, vom Blues bis zu den Stones, von Bob Dylan bis zu George Harrison. Die Magie des Kinos und das Mitreissende der Musik, die Wechselwirkung zwischen Bühne und Publikum, zwischen Darstellung und Wahrnehmung interessieren Scorsese, und darum verwundert es nicht, dass er, nach The King of Comedy und Raging Bull, wieder einen Mann in den Mittelpunkt rückt, der die Aufmerksamkeit anderer wie kein zweiter sucht.

Der Wolf des Filmtitels basiert, wie Henry Hill in Goodfellas, Jake LaMotta in Raging Bull oder Georges Méliès in Hugo, auf einer authentischen Figur und treibt ihren Mythos, den man so gar nicht hätte erfinden können, lustvoll auf die Spitze: Jordan Belfort war ein junger Börsenschwindler, der in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Firma Stratton Oakmont gründete und fast fünfzig Millionen Dollar im Jahr verdiente – bis er 1998 verhaftet und in zehn Punkten der Geldwäsche und des Aktienbetrugs angeklagt wurde. So wie Leonardo DiCaprio ihn spielt, ist er ein Selbstdarsteller unter Strom, ein hungriger junger Mann mit aufgeblasenem Ego – den Kopf voller Allüren. Von Beginn an kommentiert Belfort seine zahlreichen windigen Geschäfte und privaten Ausschweifungen mit stolzem und enthusiastischem Voice-over. Dabei spricht er gelegentlich den Zuschauer direkt an, flüstert ihm auch schon mal unter vorgehaltener Hand etwas zu, so als leite er ihn durch den Film. Doch nicht immer erweist er sich als verlässlicher Erzähler, manchmal muss er auch korrigierend eingreifen – so wie bei dem roten Ferrari, der eine Landstrasse entlangrast. In Wirklichkeit sei er aber weiss gewesen, so Belfort – prompt ändert sich die Farbe. Und dann erzählt Belfort, wie alles begann, wie er als Zweiundzwanzigjähriger in der florierenden Firma des Wall-Street-Profis Mark Hanna anheuert, unter dessen Fittichen das Handwerk des Geldverschiebens lernt und auch in die angenehmen Seiten des Lebens (sprich: Drogen und Sex) eingeführt wird. Doch dann der 19. Oktober 1987 – Börsencrash! Belfort steht mit seiner Frau Teresa unverhofft auf der Strasse. Durch eine Kleinanzeige findet er eine Anstellung in einer Penny-Stock-Klitsche in New Jersey, wo er Billigaktien an Hausfrauen, Rentner und Angestellte verscherbelt – bei einer Provision von fünfzig Prozent! Als er sich zum ersten Mal ans Telefon setzt, um einem Wildfremden das Geld abzuschwatzen, steht die ganze Belegschaft um ihn herum und hört bewundernd zu: So viel Charme, Eloquenz und Überzeugungskraft, fernmündlich übertragen, haben sie noch nicht erlebt. Dann erlaubt Belfort es, dass zufällig Donnie Azoff in sein Leben tritt. Schnell ist die Idee einer eigenen Broker-Firma geboren. Der Beginn von Stratton Oakmont. Die anderen Mitstreiter stellt Belfort dem Zuschauer steckbrieflich kurz vor, sogar ein Muskelprotz ist dabei. Sie alle sind ahnungslose, laute und ruppige Flegel, denen es trotzdem gelingt, durch schriftlich festgelegte Sätze Kunden bei ihrer Gier zu packen und zu überreden. Und das ist das eigentlich Erschreckende an diesem Film: Hier sind Angeber und Dummköpfe am Werk, die mit ihrem Reichtum protzen und keinen Geschmack haben. Einmal fällt das Schlagwort von den «Masters of the Universe», was Assoziationen zum Dokumentarfilm von Marc Bauder weckt. Doch dem Intellekt von Rainer Voss, Bauders Protagonisten, wären Belfort und Co. sicher nicht gewachsen. Für die Kunden haben sie nur Verachtung übrig, wie eine Szene beweist: Da macht Belfort während eines Telefongesprächs zur hämischen Freude seiner Mitarbeiter obszöne Gesten – bis der Deal endlich abgeschlossen und der Kunde über den Tisch gezogen ist. Das Geld fliesst in Strömen – Belfort lebt in Luxus und Überfluss: riesengrosses Anwesen, Hubschrauber, Luxusauto, eine neue, verwöhnte und anspruchsvolle Frau, der er sogar eine Yacht mit ihrem Namen, Naomi, schenkt. Doch längst hat sich das FBI in Gestalt des Agenten Patrick Denham an Belforts Fersen geheftet.

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Geld, Gier, Drogen, Alkohol und Sex: Martin Scorseses Blick hinter die Kulissen der Wall Street ist eine burleske Show, laut, geschäftig, wild, ungestüm, komisch, mit aussergewöhnlicher Virtuosität inszeniert. Und in jeder Hinsicht besonders: drei Stunden Lauflänge, Freeze-Frames, Jump Cuts, Zeitlupe, ausgetüftelte Kamerafahrten, die an jene berühmte Steadicam-Szene in Goodfellas erinnern, ein ironischer Gebrauch des Soundtracks, etwa wenn das FBI zu «Mrs. Robinson» eine Razzia durchführt. Scorsese erweist sich auch hier wieder als Meister der inszenatorischen Mittel. Der frenetische Furor der Inszenierung, vom Sex im Büro bis zum Untergang der Yacht im sturmdurchtosten Mittelmeer vor Sardinien, treibt die Handlung voran und dosiert geschickt die Action. Dabei gibt Scorsese gar nicht erst vor, einer wie auch immer gearteten Realität nachzuspüren. Er kleidet Belforts Buchvorlage in eine furiose Satire, in der alles möglich ist, die sich keine Grenzen setzt. Und vielleicht ist dies Scorseses komischster Film, noch absurder als After Hours von 1985. Die verrücktesten Momente bestechen durch Witz und Ironie, sei es die Fellatio im gläsernen, nach oben gleitenden Aufzug, das von grossem Jubel begleitete Werfen eines Kleinwüchsigen gegen eine mitten im Büro aufgestellte Zielscheibe oder jene langhaarige, attraktive Angestellte, die sich gegen entsprechende Dollars eine Glatze rasieren lässt, nicht zu vergessen die unpassende Unterhaltung mit dem Vater über die neue Mode der Intimrasur. Dem altmodischen Liberalismus von Oliver Stones Wall Street mit seinen Moralpredigten und dem simplen Gut / Böse-Schema setzt Scorsese schillernde Verführung und exzessiven Hedonismus entgegen. Höhepunkt der Verrücktheit ist sicherlich Belforts Bemühen, unter dem Einfluss einer Quaalude-Überdosis in seinen Ferrari einzusteigen und ein abhörsicheres Telefon zu finden. Wie er auf allen Vieren über den Boden robbt, die wenigen Stufen seiner Villa hinunterfällt und dann versucht, mit einem Fuss, immer noch liegend, die Wagentür zu öffnen, ist ganz grosser Slapstick, von den Folgen der Autofahrt ganz zu schweigen. Nur einmal hält der Film inne, da hält DiCaprio, beeindruckt durch die FBI-Recherchen, eine nachdenkliche und ernsthafte Rede, die seine letzte sein soll – bis er es sich urplötzlich anders überlegt. Dies ist nicht der Film für Zaudernde.

Martin Scorsese schlägt mit The Wolf of Wall Street die Brücke zu seinen eigenen Filmen, Goodfellas zum Beispiel, aus dem das Motiv des Verrats – Belfort wird dem FBI später helfen – und Neuanfangs stammt. Vor allem aber lassen sich Parallelen zu Casino ziehen, der quasi als Antipode fungiert. Der Aufstieg und Fall der Mafia im Glücksparadies wird hier durch den Aufstieg und Fall eines Brokers an der Wall Street gespiegelt. So wie sich Las Vegas als Stadt des Glitzers und des Scheins, als Bühne der Reichen und Schönen sehen lässt, ist auch die Wall Street ein Mekka der Gierigen und Glücksuchenden, ein Ort der Versprechungen und Lockungen. Voll Hoffnung lassen die Menschen hier, wie im Casino, ihr Geld – um nicht selten mit leeren Taschen dazustehen. Leonardo DiCaprio ähnelt Robert De Niro alias Sam “Ace” Rothman, wenn auch auf einer entgegengesetzten Ebene der Verantwortung. Beide widmen sich dem kleinsten Detail, die Unterschiede zwischen Gangster und Broker verwischen. Und so wie Scorsese in wundervollen, kurzen und präzisen Szenen in Casino gezeigt hatte, wie das Geld gescheffelt, gesammelt, gezählt, geschnürt, gestapelt, gepackt und dann in Koffern nach Kansas City geschafft wird, gibt es auch hier Szenen, in denen eine Prostituierte mit Dollarscheinen geradezu einbalsamiert wird, um die Millionen unentdeckt in die Schweiz zu schaffen. Das Casino und Stratton Oakmont als unablässige Geldmaschine – Gewinner ist immer die Bank. Die amerikanische Idee vom «Pursuit of Happiness» wird dabei pervertiert. In einer seiner aufputschenden, furiosen, fast wütenden Reden behauptet Belfort, dass jeder in Amerika es schaffen könne, egal ob er mit der Mayflower aus England oder mit der Nussschale aus Haiti gekommen sei. Das stimmt so natürlich nicht. Denn hier an der Wall Street schafft es nur derjenige, der am unbekümmertsten die Ellbogen ausfährt.

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The Wolf of Wall Street gehört ganz Leonardo DiCaprio, der hier – nach Gangs of New York, Aviator, Departed und Shutter Island – zum fünften Mal für Scorsese vor der Kamera steht. Zwar ragen auch andere Schauspieler heraus, wie zum Beispiel Matthew McConaughey als Belforts Mentor, der zu Beginn des Films in einem Restaurant über den Dächern Manhattans eine Wahnsinns-Performance als braungebrannter, selbstzufriedener und aufputschender Millionär gibt und so seine Vielseitigkeit (er ist im Moment auch als Aids-kranker, abgemagerter Cowboy in Dallas Buyers Club zu sehen) beweist. Doch DiCaprio reisst alles an sich. Wenn er mit weit ausgebreiteten Armen, verfolgt von einer agilen Kamera, das Grossraumbüro entert, um seine Mitarbeiter nicht nur zu motivieren, sondern mit Verve, Enthusiasmus, Energie und manchmal sogar körperlicher Wut anzutreiben, so als sei er eine Mischung aus Prediger und General, ist das ganz grosse Schauspielkunst. Belfort zieht stets die ganze Aufmerksamkeit auf sich, und DiCaprio arbeitet wie ein Berserker, um den Zuschauer zu verführen und diese Aufmerksamkeit zu rechtfertigen. Am Ende der Rede stehen seine Zuhörer auf ihren Schreibtischen, klopfen ihre Fäuste gegen die Brust und summen rhythmisch, einem Mantra gleich, so als wären sie auf einem Rockkonzert. Der Broker als umjubelter Rockstar, und mit einem Mal sind Mick Jagger und Shine a Light gar nicht so weit entfernt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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