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Ixcanul 01

Ixcanul

Am Fusse eines Vulkans, am Rand einer Kaffeeplantage, irgendwo in Guatemala steht eine Hütte. Notdürftig zusammengezimmert fungiert sie als Dorkneipe. Die jungen Männer betrinken sich darin, bis das Geld ausgeht oder der Magen rebelliert. Und sie machen sich lustig über Pepe, der nach Amerika will, in die USA, das reiche Land voller Autos gleich hinter dem Vulkan, nur noch Mexiko liegt dazwischen.

Text: Stefan Volk / 04. Nov. 2015

Am Fusse eines Vulkans, am Rand einer Kaffeeplantage, irgendwo in Guatemala steht eine Hütte. Notdürftig zusammengezimmert fungiert sie als Dorkneipe. Die jungen Männer betrinken sich darin, bis das Geld ausgeht oder der Magen rebelliert. Und sie machen sich lustig über Pepe, der nach Amerika will, in die USA, das reiche Land voller Autos gleich hinter dem Vulkan, nur noch Mexiko liegt dazwischen. Die anderen lachen. Auf so einen wie Pepe, lästern sie, hätten die Gringos bestimmt nur gewartet. Draussen vor der Hütte hat Regisseur Jayro Bustamante seine Kamera aufgestellt. Sie steht nur da, statisch, und zeigt in einer langen tiefenscharfen Totalen, wie sich die 17-jährige MarÍa von hinten an die Schenke heranschleicht. Der Ausschnitt ist sorgsam gewählt. Die Ecke der Hütte teilt das Bild in zwei Bereiche. So entsteht eine Art natürlicher Splitscreen. Links taumelt Pepe besoffen der seitlichen Hüttenwand entlang und bittet seinen Kumpel vergeblich, ihm doch noch einen auszugeben. Rechts hinter der Hütte kauert MarÍa auf dem Boden, lauscht, wartet, bis Pepe endlich allein ist. Während er sich übergibt, knöpft sie sich die Kleider auf.

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Mit weit aufgespannten Tableaus wie diesem wählt Jayro Bustamante in seinem Spielfilmdebüt eine so bedächtige wie bedachtsame Erzählweise. Zugleich steckt er damit aber auch den soziokulturellen und geografischen Rahmen ab, in dem sich seine Protagonisten bewegen. Natürlich verdanken die in satten Farben getünchten Leinwandgemälde ihren eigentümlichen Reiz jener kargschönen, urtümlich anmutenden Landschaft, in der sie entstanden sind: den üppigen, grün leuchtenden Kaffeefeldern, den dampfenden Aschebergen eines aktiven Vulkans. Trotz der optischen Distanz, aus der Bustamante das Geschehen beobachtet, haftet seiner Perspektive jedoch nichts Ethnografisches oder gar Folkloristisches an. Der guatemaltekische Regisseur führt die Mayakultur nicht vor. Er blickt nicht – oder besser: nicht nur – von aussen auf die indigenen Bewohner seines Landes, sondern schaut auch durch ihre Augen hindurch auf die Welt. Dass ihm das so fabelhaft gelingt, liegt in erster Linie daran, dass er fast ausschliesslich mit Laiendarstellern arbeitet. María Mercedes Coroy in der Hauptrolle, Marvin Coroy als Pepe, Justo Lorenzo, der den gebildeten, Spanisch sprechenden Vorarbeiter Ignacio spielt, dem MarÍa eigentlich versprochen ist, sowie María Telón und Manuel Antún in der Rolle von MarÍas Eltern: Für sie alle ist Ixcanul das erste Filmprojekt. Und obwohl ihre überzeugenden Darbietungen entscheidenden Anteil daran haben, dass Bustamantes Erzählung trotz einigen dramaturgischen Stolperstellen so stimmig wirkt, dürften die wenigsten von ihnen am Anfang einer grossen Kinokarriere stehen. Dafür bleiben sie am Ende vielleicht doch zu sehr sie selbst. Freilich, um eine zwielichtige Figur wie Ignacio derart nuanciert zu verkörpern, wie Justo Lorenzo das macht, oder so viel brodelnde Energie und Emotionalität auszustrahlen wie María Telón in der Mutterrolle, braucht es schon eine gehörige Portion schauspielerischen Talents.

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Allein authentisch zu sein, genügt auch Bustamante nicht. Bei aller Nähe, die der 38-jährige Drehbuchautor und Regisseur zu seinen Figuren sucht, geht er doch auch immer wieder auf Distanz zu ihnen. Und das nicht nur visuell. Die eigentlich recht banale Liebesgeschichte würzt er mit reichlich (Tier-)Metaphorik (Schweine werden geschlachtet und geboren, Schlangen treiben in den Plantagen ihr Unwesen), aber auch mit kultur- und sozialkritischen Untertönen. MarÍa, ihre Familie, ihre indigene Kultur erscheinen dabei als Opfer eines rücksichtslosen modernen Kolonialismus, was besonders im letzten überraschenden Drittel dieses facettenreichen, faszinierenden Films deutlich wird, in dem es MarÍa und ihre Eltern unfreiwillig in die tosende Stadt verschlägt. Die geduldigen Tableaus weichen dort schnellen, gehetzten Schnitten und einem hektisch-dokumentarischen, mitreissenden Handkamerastil. Zugleich aber erscheinen MarÍa und ihre Familie auch als Opfer ihrer eigenen Naivität, mangelnder Aufklärung im sexuellen und philosophischen Sinn. Noch immer halten sie an Traditionen und Ritualen – etwa zur Vertreibung der Schlangen – fest, an die sie eigentlich schon gar nicht mehr glauben. Nein, das sind keine Einheimischen mehr, von denen Ixcanul erzählt. Es sind Heimatlose, Getriebene, Vertriebene, Zerriebene zwischen den Welten.

Insofern taugt auch MarÍas schmerzliches Coming-of-Age als Sinnbild für die Verlusterfahrung ihres Volkes. Zugleich aber formuliert es eine ziemlich universelle Teenagerstory. Das alte Lied. Vor der Dorfkneipe verführt MarÍa den heillos betrunkenen Pepe. Sie hofft, dass er sie dann aus Liebe mit in die USA nehmen wird. Beide liegen auf dem nackten Erdboden. Er keucht, sie beisst auf die Zähne. Es ist ihr erstes Mal. Als sie ihn bittet «aufzupassen», raunt er ihr leichtfertig ins Ohr: «Beim ersten Mal passiert nichts.» Bis zum Beweis des Gegenteils ist er längst schon über alle Berge.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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