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Hrutar 05

Rams / Hrútar

An Islands Nordküste herrscht die Natur über die Menschen. Ausgerechnet dort erreicht nun die Globalisierung – lange nach den Bankern – auch die Bauern. Mit einem Virus. Dieses wuchert nicht in Kreditblasen, es lässt einen anderen Wahnsinn ausbrechen: die Traberkrankheit – eine Art Schafswahnsinn, die das Schafshirn erweichen lässt.

Text: Hansjörg Betschart / 04. Nov. 2015

An Islands Nordküste herrscht die Natur über die Menschen. Ausgerechnet dort erreicht nun die Globalisierung – lange nach den Bankern – auch die Bauern. Mit einem Virus. Dieses wuchert nicht in Kreditblasen, es lässt einen anderen Wahnsinn ausbrechen: die Traberkrankheit – eine Art Schafswahnsinn, die das Schafshirn erweichen lässt. Der Befall eines einzigen Schafkopfs reicht. Schon müssen die Schafe des ganzen Tals umgebracht werden.

Gummi und Kiddi sind Brüder. Sie sind die letzten Nachkommen der Bodvarssons und wechseln seit Jahren kein Wort mehr miteinander. Ihr Leben auf dem abgelegenen elterlichen Hof ist karg. Jeder betreibt in seiner Hofhälfte eine Schafzucht. Als Kiddis Bock den Schafzüchterwettbewerb des Tals gewinnt, kommt es zum Eklat: Gummi enthüllt, dass Kiddis Bock die Traberkrankheit hat. Damit kommen die Dinge im Tal in Fahrt. Nicht nur in den Hirnen der Böcke. Aber erst haben sich die beiden Brüder etwas zu sagen. Gummi schickt den Hund Somi mit einer Nachricht zu seinem Bruder Kiddi: ein einziges Wort, das umso schwerer wiegt. Und dieses Wort bringt nun die ganze Gegend in Aufruhr – und den Überbringer in Not.

Hrutar 01

Der junge isländische Regisseur Grímur Hákonarson erzählt seine Geschichte in einem der abgelegendsten Teile der Erde. Die Weite der Landschaft stellt er gegen die Enge in den Köpfen ihrer Bewohner. Die Bilder des norwegischen Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen (Victoria) nehmen die Rhythmen dieser weiten Landschaft um Bolstad auf. Er deutet in gelassenem Tempo eine rasende Talfahrt im Hochland an. Atli Örvarsson trägt mit seiner Musik ebenso dazu bei, dass die Bilder haften bleiben, wie er auch die gediegene Distanz, die der Film zulässt, nicht stört. Die Schüsse, die das erste Drittel des Films abschliessen, sind bloss der Anfang eines grossen Gleichnisses von Bruderliebe.

Hákonarson erzählt seinen Film wie eine präzis formulierte Novelle. Er lässt uns in stoischer Ruhe an den kleinen Reibereien im entschleunigten Leben der Brüder teilhaben. Er lässt uns die Tragweite ihres Zerwürfnisses erahnen. Ein zerschossenes Fenster genügt ihm, um uns den Beginn eines Kriegs vor Augen zu führen. Hákonarson braucht keine aufwendigen Kulissen. Er liefert Indizien und verfolgt mit der Akribie eines Dokumentaristen die Handreichungen, die nun verrichtet werden. Zwei Häuser und zwei Schafherden genügen ihm, um eine grosse Frage unserer Zeit zu diskutieren: Wer hat Verantwortung?

Hrutar 02

Schon wohnt der eine Bruder im Keller, schon sitzt der andere Bruder im Gefängnis. Die Liebe der Brüder zu den Tieren prallt mit Wucht auf den alten Familienhass. Hákonarson lässt aber seine Menschen mitten in der erbarmungslosen Landschaft Islands nicht ohne Gegenwehr in die Katastrophe rasseln. Er liebt Überraschungen. Als die Zuschauer erwarten, dass die Gebrüder endgültig aneinander zerbrechen, folgt eine unerwartete Wende. In der Mitte des Films scheint die Geschichte eines Betrugs zu Ende zu sein. Damit erweist sich Hákonarson als gewiefter Novellist. Mitten im Film fängt ein neuer Film an. Wieder lässt Hákonarson seinen beiden Protagonisten Sigurður Sigurjónsson und Theodór Júlíusson genauso viel Zeit, um den Konflikt wieder zuzuspitzen. Mit einem ökonomischen Gefühl für Dramatik schildert er uns nur das Nötigste, und in der präzisen Gemächlichkeit schärft er den Konflikt.

Plötzlich hat nun Gummi etwas zu verbergen – was wir hier nicht verraten wollen. In einem einzigen Bild erzählt Hákonarson, wie Gummi geheim hält, was er da im Keller treibt. Und wieder gerät die Geschichte in Gefahr. Und jetzt drängt der Film trotz aller Gemächlichkeit zu einem spannenden Ende: Hrútar gewinnt eine unerwartete Zärtlichkeit für die Figuren und eine warme Begeisterung für deren Anarchie. Beide Brüder sehen die Konsequenzen ihres Handelns. Jeder zieht seine Schlüsse. Und wir erhalten so einen Schluss, der so einfach und wunderschön eingefangen ist, als stamme er aus der alten sagenumwobenen Zeit der Insel.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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