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Mia madre

Wie schon in La stanza del figlio (2001) geht es in Nanni Morettis neuem Film um Verlust und Trauer, um den Tod und das Leben, um Familie und Verwandtschaft. Und weil Morettis Mutter während der Dreharbeiten zu Habemus Papam (2011) starb, ist dies auch ein sehr persönlicher Film geworden, zumal er selbst in der Rolle des Sohns zu sehen ist.

Text: Michael Ranze / 16. Dez. 2015

Es gibt eine Szene im Film, die macht das ganze Dilemma von Margherita, der Hauptfigur, emblematisch deutlich. Als sie ihre Mutter, die bald sterben wird, im Krankenhaus besucht und ihre zuvor noch hastig an der Theke im Supermarkt gekauften Antipasti auspacken will, kommt ihr ihr Bruder Giovanni mit selbst gekochter Pasta zuvor. Margherita arbeitet als Regisseurin, sie ist ebenso selbstbewusst wie verletzlich, ebenso fordernd wie dünnhäutig. Doch über ihrer Anspannung vergisst sie so kleine Gesten der Mitmenschlichkeit. Giovanni ist da ganz anders, weicher, freundlicher, fürsorglicher. Für die Pflege seiner Mutter hat er sogar seinen Beruf aufgegeben.

Wie schon in La stanza del figlio (2001) geht es in Nanni Morettis neuem Film um Verlust und Trauer, um den Tod und das Leben, um Familie und Verwandtschaft. Und weil Morettis Mutter während der Dreharbeiten zu Habemus Papam (2011) starb, ist dies auch ein sehr persönlicher Film geworden, zumal er selbst in der Rolle des Sohns zu sehen ist. Mehr noch: Morettis Mutter arbeitete, wie jene im Film, lange Jahre als Lehrerin und hatte – zur Irritierung Morettis – zu ihren Schülerinnen und Schülern ein vielleicht nicht besseres, aber engeres Verhältnis. Der persönliche Ansatz sollte aber nicht dazu verführen, hier Autobiografisches entdecken zu wollen. Denn Margherita führt ganz anders Regie als Moretti – aufbrausender, nervöser, angestrengter. Und: Sie macht einen ganz anderen Film, einen realistischen nämlich, und verweist so auf eine lange Tradition im italienischen Kino. Und doch geht es hier auch um das fiktive Kino, die Geschichten, die es erfindet, die Illusionen, die es erschafft, die Parallelwelten, die es entwirft, ganz konkret in Träumen und Erinnerungen.

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Margherita dreht einen Film über streikende Arbeiter in einer Druckerei, die von der Schliessung bedroht ist. Es geht ihr um Realismus, um Engagement, um Anspruch. «Ich will den Schauspieler neben seiner Figur sehen», sagt Margherita mehrmals in einer Art Running Gag zu ihren Darstellern, ohne dass sie jemand verstünde. Die Hauptrolle spielt der Hollywoodstar Barry Huggins, der von vergangenem Ruhm zehrt, mit dem italienischen Übersetzer hadert und dauernd seinen Text vergisst. Sein Versagen übertüncht er mit Jovialität und Angeberei. Barry – eine eitle Nervensäge. Damit nicht genug: Privat hat sich Margherita von ihrem Freund Vittorio getrennt, ihre heranwachsende Tochter Livia lebt beim Vater und hat nur die Anschaffung eines Motorrollers plus Führerschein im Kopf, anstatt für die Schule zu lernen. Der nahende Tod ihrer Mutter ist für Margherita ein unerträglicher Gedanke, und doch zwingt er sie, Stellung zu beziehen und sich den anderen zu öffnen. Was ist wirklich wichtig im Leben? Und mit welchen Menschen möchte sie dieses Wichtige erreichen?

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Eine Frau, gefangen zwischen zwei Polen, dem Berufsleben, in dem alle auf sie schauen, und dem Familienleben, in dem andere die Handelnden sind. Moretti beobachtet diesen Alltag sanft und beiläufig, aber genau, ohne grosses Aufheben, mit kleinen, hingeworfenen Szenen, die immer Aufschluss geben über die psychische Verfassung Margheritas, über ihren Charakter und seine Widersprüche. Während ihre Mutter – davon zeugen die Besuche der ehemaligen Schüler am Krankenbett – auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann und ihre Tochter noch alles vor sich hat, kämpft sie im Hier und Jetzt, eingezwängt zwischen den Generationen, zwischen jung und alt.

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In seinem Bemühen, die Chronik dieser Lebenskrise durch humorvolle Zwischenspiele zu kontrapunktieren, erlaubt Moretti vor allem John Turturro, seinen Part zu überspielen. Seine Eitelkeit, seine Sprachprobleme, seine Übermotiviertheit, seine Unfähigkeit haben immer etwas Überdrehtes. Doch dann versöhnt er das Drehteam (und uns, das Publikum) bei einer Feier mit einem improvisierten, fast schon absurden Tanz, den man so, in dieser Ausdrucksstärke und Spontaneität, noch nicht gesehen hat. Margherita Buy hingegen, eine der ganz grossen Schauspielerinnen des italienischen Kinos, wirkt mit ihrer verbissenen Suche nach Realismus und Echtheit, mit ihrer Unfähigkeit, den eigenen Ansprüchen zu genügen, sehr nuanciert und vielschichtig. Ihre Mischung aus aggressiver Schroffheit und vermittelnder Sanftmut machen die Eckpunkte ihres Temperaments aus. Sie schreit und flucht am Set, bis sie endlich merkt: «Ich bin bloss wütend auf mich selbst.» Ein schöner Moment der Einsicht, in dem sich mancher Zuschauer wiedererkennen wird.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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