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The Program

Einer der Journalisten, die Lance Armstrongs Karriere von Beginn an verfolgten, war David Walsh, dessen 2012 erschienenes Buch «Seven Deadly Sins: My Pursuit of Lance Armstrong» nun Regisseur Stephen Frears als Vorlage diente. Fast 500 Seiten, verteilt auf 104 Filmminuten – das gibt The Program von Beginn an etwas Eiliges, Hingeworfenes, Angedeutetes.

Text: Michael Ranze / 23. Sep. 2015

Was hatte sich Lance Armstrong bloss dabei gedacht? Über Jahre hinweg, nachdem er den Krebs besiegt hatte und mit sieben Tour-de-France-Titeln zur internationalen Rad-Ikone avancierte, stritt er energisch alle Anschuldigungen, jemals gedopt zu haben, ab. Er missbrauchte seine Macht, um kritische Journalisten mit Prozessen einzuschüchtern und ehemalige Freunde und Weggefährten in menschenverachtender, abscheulicher Weise öffentlich zu diffamieren. Es war diese Diskrepanz zwischen den schwerwiegenden Dopingvorwürfen und Armstrongs eindringlicher Leugnung, die diesen Fall so komplex und undurchsichtig machte. Armstrongs Lügengebäude fiel in sich zusammen, als er im Januar 2013 in einem Fernsehinterview mit Oprah Winfrey seine Schuld eingestand – auch wenn er ihre Fragen nur einsilbig beantwortete und allenfalls an der Oberfläche des Problems kratzte. Sein tiefer Fall war nun nicht mehr aufzuhalten, die Titel wurden ihm aberkannt.

Einer der Journalisten, die Armstrongs Karriere von Beginn an, seit 1993, verfolgten, war David Walsh, dessen 2012 erschienenes Buch «Seven Deadly Sins: My Pursuit of Lance Armstrong» nun Regisseur Stephen Frears und seinem Drehbuchautor John Hodge als Vorlage diente. Fast 500 Seiten, verteilt auf 104 Filmminuten – das gibt The Program von Beginn an etwas Eiliges, Hingeworfenes, Angedeutetes. David Walsh, dargestellt von Chris O’Dowd, wird dabei – das kündigt bereits der vollständige Buchtitel an – zur Nemesis von Armstrong, den Ben Foster beeindruckend mit unfassbarer Ähnlichkeit und genau beobachteten mimischen Eigenheiten verkörpert. 1993 ein erstes, noch unbelastetes Kennenlernen, ein Gespräch bei einer Partie Tischfussball: Armstrong – der selbstbewusste, ehrgeizige junge Mann, getrieben vom Siegeswillen. Kurze Zeit später, bei einem Tagesrennen in Belgien, seine Erkenntnis, dass er ohne Doping mit EPO nicht gewinnen kann – andere Fahrer rasen ihm einfach davon. Erste Kontakte zu Dr. Michele Ferrari, dem zwielichtigen Italiener. Dann der Rückschlag: Armstrong erkrankt an Hodenkrebs.

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Frears ist dieses Trauma, das später den Mythos Armstrongs noch verstärken wird, nur wenige Szenen wert. Gespräche mit Ärzten, Chemotherapie, Genesung, erste Trainingsversuche. Dann 1999 Armstrongs erster Tourgewinn, den Walsh kritisch begleitet. Ein generalstabsmässig geplanter Coup, kurz «The Program» genannt, ging ihm voraus, bei dem Armstrong nicht nur sein eigenes Training verfeinert, sondern mit dem neu entstandenen US-Postal-Team eine Truppe zusammenstellt, die sich ihm bedingungslos unterordnet und – von der speziell zusammengestellten Diät bis zum Equipment – nur das Beste erhält. Ferrari überwacht derweil das Doping. Zwischendurch immer wieder der Fokus auf Walsh, der seine Chefredakteure bei der «Sunday Times» davon überzeugen muss, dass er eine grosse Geschichte an der Angel hat: Hinter einer Mauer aus Schweigen hat er ein konspiratives System des Dopings aufgedeckt, das auch Sportverbände, Kontrolleure und Polizei betrifft.

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Frears verliert sich zu sehr in der Vielzahl der Bezüge, in den Verwicklungen der Schuldigen, im Geflecht aus Betrug und Vertuschung. Vieles kann er nur antippen, zahlreiche Fakten, die man noch in guter Erinnerung hat, hätte man sich ausführlicher gewünscht. Alex Gibneys Dokumentarfilm The Armstrong Lie (2013), direkt nach dem Erdbeben des Oprah-Winfrey-Interviews entstanden, ist da sehr viel erschöpfender und tiefschürfender, zumal der Regisseur auch Gespräche mit Walsh, Armstrong selbst, ehemaligen Teamkollegen und Dr. Ferrari führte, um so das Doppelleben des einstigen Idols detailliert blosszulegen. Trotzdem gibt es in The Program Szenen und Bilder, die man so schnell nicht vergisst, das traurige Gesicht von Floyd Landis zum Beispiel, Armstrongs wichtigstem Domestiken, gleichzeitig frommem Mennoniten, der durch das Doping in Konflikt mit seinem Glauben gerät. Und dann Armstrongs unkluges Comeback bei der Tour de France 2009, bei der er sich unerwartet gegen Alberto Contador wehren muss – und verliert. Wie geht ein Mann mit diesem Sturz vom Sockel um, wie verkraftet er öffentliche Anklage und finanziellen Ruin? Darüber hätte man gern mehr gewusst. Armstrong selbst bleibt uneinsichtig: «Ich finde, dass ich die sieben Siege der Tour de France trotzdem verdient habe.» Da ist jemandem das Einnehmen von Drogen so sehr zur Gewohnheit geworden, dass es zum unreflektierten Anrecht gerät.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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