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Tinou

«Je bois sans y prendre plaisir» singt Boris Vian. Getrunken wird viel in Res Balzlis Spielfilmdebüt Tinou. Der gleichnamige Protagonist kann sich in der Tat nicht mehr unbeschwert ein Gläschen gönnen, denn er leidet an einer Leberzirrhose. Balzli lässt Gegensätze aufeinanderprallen, den grauen Alltag im verschneiten Bern und die Farbexplosion im Traum, der Tinou nach Afrika führt.

Text: Tereza Fischer / 20. Apr. 2016

«Je bois sans y prendre plaisir» singt Boris Vian. Getrunken wird viel in Res Balzlis Spielfilmdebüt Tinou. Der gleichnamige Protagonist kann in der Tat nicht mehr unbeschwert ein Gläschen Wein geniessen, denn er leidet an einer Leberzirrhose. Ohne eine neue Leber hat er nicht mehr lang zu leben. Tinou ist im Berner Aarequartier zu Hause, umgeben von seinen Freunden, Stadtoriginalen und vom Leben Gezeichneten. Täglich sitzen sie in der «Jungfrau» und lassen den grauen Alltag bei einem «Halbeli» Roten hinter sich. Unermüdlich ruft die Rosenverkäuferin immer wieder «la vie est belle» dazwischen. Es ist eine Frage der Perspektive.

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Da sitzen sie also, Tinou und sein Freund Aschi, der seine glücklichen Tage auch schon lange hinter sich hat. Die beiden Bilingues sind in zwei Sprachen zu Hause und in zwei Welten, im Alltag in der «Jungfrau» und in ihren Träumen. Als Aschi erfährt, dass er einen erwachsenen Sohn in Südafrika hat, will er Träume in Taten verwandeln und auf Reisen gehen. Aber nicht ohne seinen Freund. So beschliesst Tinou, eine Operation über sich ergehen zu lassen und 2041 noch seinen 100. Geburtstag zu feiern. Fortan verzichtet er auf Alkohol und trinkt Tee mit seinen Freunden. Die Reise nach Afrika ist ein grosser Traum, der sich für Tinou nach seiner Operation erfüllen soll. Bald fährt er mit Aschi und der Krankenschwester Miriam auf einem Frachtschiff gegen Süden – aber nur in einer kollektiven Phantasie, die ihm das Koma kurz vor dem Tod beschert.

Res Balzli lässt die Gegensätze aufeinanderprallen, den grauen Alltag im verschneiten Bern und die vor Farben explodierenden Abenteuer in Afrika. In Sévérine Bardes Bildern wirken die Grautöne des Alltags warm und leuchtend, die Traumbilder sind vom knalligen Himbeerrot durchtränkt. Ist Tinous Leben als eine kleine Welt von skurrilen Momenten, aber auch von Freundschaft geprägt, entfaltet der Traum seine eigene Logik. Er erschliesst sich nur dem Träumer selbst, die Aussenstehenden, die Zuschauerinnen und Zuschauer also, lassen die Exotik am besten unhinterfragt auf sich wirken und geniessen die exotische Lebensfreude. Das bunte Treiben in Senegal mag nicht jedermanns Sache sein, genauso wenig wie das verklärte Afrikabild. Dennoch gönnt man es Tinou, dass er in einem Liebeshotel in Miriams Armen sterben darf und nicht im kahlen Spitalzimmer.

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Die Idee zum Film, «based on a true dream», stammt von einem, der sich mit Wein, Seefahrerei und Südafrika auskannte: vom Regisseur und Autor Johannes Flütsch, der im April 2014 verstorben ist. So ist Tinou nicht ein Gemeinschaftswerk von Balzli und Flütsch geworden, sondern eine Hommage an den Letzteren. Neben Flütsch hat Balzli kurz aufeinander mehrere Freunde verloren, unter anderen Peter Liechti und Carlo Varini, der bei Tinou hätte die Kamera führen sollen. Obwohl der Film urspünglich hätte «Auf Leber und Tod» heissen sollen, ist es eine Ode auf das Leben. «Le foie c’est la vie.»

Der Film, nicht über jede Unsicherheit der Inszenierung erhaben, lebt vom Charme der Hauptdarsteller, allen voran Roger Jendly als Tinou, aber auch von poetischen Momenten. Wenn Tinou in der letzten Einstellung, einer Spiegelung der allerersten, der Aare entlangläuft, hat auch Bern Farbe angenommen. Auf das Leben.

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