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Das Leben drehen

Vitijas Film ist eine feinfühlige und originelle Spurensuche. Die Regisseurin hat das Material gesichtet und auf seinen Wahrheitsgehalt abgeklopft, hat historische Alternativaufnahmen und weitere Quellen aus dem Familienarchiv beigebracht sowie Zeitzeugen interviewt.

Text: Felix Aeppli / 25. Apr. 2016

Die ersten Schritte, Ostereiersuchen, Schuleintritt, Ferien am Meer oder Bergwandern: Beinahe endlos wiederholen sich die Sujets im Genre Familienfilm. Eva Vitija, bekannt als Drehbuchautorin (Meier Marilyn, Stina Werenfels, 2003; neunzehn Folgen für Lüthy & Blanc, 2004 bis 2006; Sommervögel, Paul Riniker, 2013) bekam zum 18. Geburtstag von ihrem Vater einen Film «Best of My Kindheit» geschenkt, den anzuschauen sie sich während Jahren weigerte. Zu sehr hatte sie der Autor, namentlich während ihrer Pubertät, mit seiner permanenten Filmerei genervt. Doch nun, ein Vierteljahrhundert später, nachdem sie das Archiv des Vaters geerbt hatte, machte Vitija aus dem Material einen eigenen Dokumentarfilm als Abschlussarbeit im Fach Filmregie an der Zürcher Hochschule der Künste.

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Vitijas Vater ist in der Schweizer Medien und Filmszene kein Unbekannter: Der ausgebildete Schauspieler Joseph «Joschy» Scheidegger (1929–2012) trat zunächst auf diversen Bühnen auf und arbeitete hernach als Sprecher, Reporter und Hörspielregisseur beim Radio. Als Ressortleiter am Studio Basel nahm er regelmässig Texte von Schweizer Autoren als Erstaufführung ins Programm. Ab Mitte der sechziger Jahre war er als Dramaturg, Drehbuchautor und Regisseur beim Schweizer Fernsehen tätig (De Tod uf em Oepfelbaum, 1966; Landflucht, Video-spielfilm, 1979; rund ein Dutzend Folgen der TV-Serie Motel, 1984). Gelegentlich hatte er auch kleinere Auftritte in Schweizer Spielfilmen, etwa als «Milchbueb» Bader in Polizischt Wäckerli (Kurt Früh, 1955) oder als Grossvater Dürst in Vollmond (Fredi M. Murer, 1998). Schon als Jugendlicher erfasste er mit Fotoapparat und Filmkamera alles, was ihm vor die Linse kam. Geradezu obsessiv filmte er seine eigene Familie – unablässig, liebevoll, distanzlos. Wie es im doppeldeutigen Filmtitel Das Leben drehen anklingt, hielt er nicht bloss dokumentarisch Begebenheiten fest, sondern schönte das Geschehen, indem er Unannehmlichkeiten oder Rückschläge wegliess.

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Vitijas Film ist eine feinfühlige und originelle Spurensuche. Die Regisseurin hat das Material gesichtet und auf seinen Wahrheitsgehalt abgeklopft, hat historische Alternativaufnahmen und weitere Quellen aus dem Familienarchiv beigebracht sowie Zeitzeugen interviewt. Zahlreiche Gespräche mit der Mutter, mit dem Bruder Kaspar, mit späteren Partnerinnen des Vaters und mit dem Halbbruder rühren dabei an die Schmerzgrenze der Befragten. Abgründe tun sich auf, Familiengeheimnisse, Tragödien und Lebenslügen kommen ans Tageslicht, etwa die tabuisierte gescheiterte erste Ehe Scheideggers oder der Selbstmord eines Sohnes aus dieser Beziehung. – Gewiss hat jede Familie ihre Tabus, völlige Offenheit wäre wohl kaum auszuhalten. Doch zu Recht macht Vitijas Bruder geltend, dass es in einer Beziehung nicht nur Liebe, sondern auch Klarheit und Wahrheit brauche. Glücklicherweise kulminiert Das Leben drehen nicht in einem Bashing des abwesenden narzisstischen Filmvaters. Gegen Ende ihres Werks bekennt die Tochter sogar, sie sehe nun im Film, den sie einstmals geschenkt bekam, nicht mehr die Bilder des Vaters, sondern dessen Blick.

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Ihr Regieerstling ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Familie, welche die Kategorie des Familienfilms bei weitem sprengt. Das vielschichtige Werk gibt Einblicke in die gesellschaftlichen Konventionen der fünfziger und sechziger Jahre mit dem spezifischen helvetischen Mief, dem «Joschy» Scheidegger in seinen persönlichen Beziehungen und mit seinen künstlerischen Tätigkeiten zeitlebens zu entfliehen versuchte. Dabei war ihm die Filmkamera ein wichtiges Instrument der Befreiung, wenn er auch paradoxerweise in seinen privaten Aufnahmen gestelltes Familienglück inszenierte. Last, but not least: Vitijas Arbeit ist eine Reflexion über das Filmen selbst, die sich der – angesichts der Social Media hochaktuellen – Frage stellt, wie viel Öffentlichkeit privates Material erträgt. Verdientermassen wurde ihr Film an den Solothurner Filmtagen im Januar 2016 mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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