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Human Flow

Der Künstler Ai Weiwei blickt auf die Flüchtlingskrise der Gegenwart und auf die von ihr verursachten Menschenströme – aus epischer Distanz und intimer Nähe.

Text: Pamela Jahn / 14. Nov. 2017

Worüber genau reden wir, wenn wir über die Flüchtlingskrise reden? Über gekenterte Schlauchboote im Mittelmeer? Die Ströme der auf den griechischen Inseln ankommenden Migranten aus der Türkei? Den «Dschungel» in Calais? Den Menschenmassen, die seit Jahren im Libanon, in Afrika, Syrien, Jordanien, der Westbank und dem Gazastreifen unterwegs sind? Nicht weniger als 65 Millionen Heimatlose befinden sich derzeit auf der Flucht vor Kriegen, Genoziden und Hungersnöten. Dieses unfassbare Durcheinander ist es, das der in Berlin lebende chinesische Konzeptkünstler und Regimekritiker Ai Weiwei in seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm zu überschauen versucht. Gleich zwanzig Orte und darunter noch die abgelegensten hat er besucht, um nochmals deutlich auf die globale humanitäre Kata­strophe aufmerksam zu machen, die sich immer mächtiger vor uns aufbaut. Entstanden sei die Idee zum Film, nachdem Ai Weiwei bei einem Griechenlandurlaub selbst auf ein Flüchtlingsboot gestossen war. Bruchteile dieser ersten unverhofften Begegnung mit dem Elend der Migranten haben zwar ihren Weg auf die Leinwand gefunden, das ursprüngliche Konzept sei jedoch, ähnlich wie die Krise selbst, langsam immer mehr aus dem Ruder gelaufen. Am Ende war Ai Weiwei mit 25 verschiedenen Filmteams unterwegs, sogar eine Expedition in die Subsahara blieb nicht aus, und es ist nicht zuletzt die schier unermüdliche Einsatzbereitschaft des Künstlers und seiner Mithelfer, die diesen Film antreibt und das zwar bedachte, aber nie ruhende Tempo vorgibt.

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Tatsächlich hält Human Flow, was der Titel verspricht: Menschen, Bilder und Gedanken, alles fliesst in diesem Film. Rhythmisch unterbrochen werden diese scheinbar nahtlos ineinander übergehenden Momentaufnahmen lediglich durch Interviews mit Experten aus Politik und humanitärer Hilfe, die Ai Weiweis sonst frei schwebenden dokumentarischen Selbstversuch letztlich für den Künstler überraschend konventionell erscheinen lassen. Das funktioniert nicht immer und wirkt bisweilen sogar unbeholfen und fehl am Platz ob der mangelnden Balance der Argumentation. Dennoch verliert Ai ­Weiwei nie ganz den Fokus, sondern weiss sich im rechten Augenblick stets auf die Flüchtlinge zu konzentrieren. Meist sucht er auch mit ihnen das direkte Gespräch, packt mit an, wenn es darum geht, neue Boote an Land zu ziehen oder im Lager Tee zu verteilen, und versteht es, die wie und wo auch immer Gestrandeten auf einfühlsame Weise nach ihren Geschichten zu befragen, ihre Ängste und Hoffnungen zu teilen, in einer Welt, die nicht die ihre ist und vielleicht nie sein wird.

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Im Kontrast zum Chaos der intimen, zwischenmenschlichen Erfahrung steht die trügerische Harmonie und Präzision der Bilder, mit denen Ai Weiwei immer wieder die Sicht auf das komplexe Ganze weitet. Google­-Earth-artig zoomt die Kamera an die Flüchtlingsboote und UN-Camps heran. Ob in Gaza, an der griechischen Grenze zu Mazedonien oder in Berlin Tempelhof, immer wieder weisen Dronenflüge über quadratische Weiten auf die nächste Station der Reise hin. In den stärksten Momenten erinnert sein gezielter und zugleich offener Blick an die konsequente Zwanglosigkeit, mit der auch ein erprobter Dokumentarist wie Michael Glawogger auf die Welt schaute, ohne immer gleich nach Erklärungen und Lösungen für die Probleme zu suchen, die sich vor seiner Kamera abspielten. Störend wirkt hingegen, dass sich der Künstler in seiner Euphorie stellenweise selbst zu sehr in den Mittelpunkt rückt und damit den Fokus mitunter in die falsche Richtung verschiebt.

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Zum Glück bleiben diese Momente selten. Entscheidend ist vielmehr, dass Ai Weiwei im Zuge seiner ambitionierten Mission deutlich macht, wie erfolgreich etwa auch Europa der Flüchtlingsfrage mittlerweile auszuweichen versucht und tausende Menschen im Stich lässt, hinter Stacheldrahtzäunen, auf hoher See, unter zerrissenen Planen im Schlamm. Allein deshalb schon ist Human Flow weitaus mehr als lediglich ein «Selfie mit Flüchtlingen», wie der Film nach der Premiere in Venedig von kritischen Stimmen genannt wurde. Es ist der Versuch eines Einzelnen, den Blick aller zu weiten, anstatt die Augen noch länger vor der Herausforderung zu verschliessen. Episch, mäandernd, bisweilen übereifrig präsentiert auch Ai Weiwei deshalb zwar noch lange keine umfassende, aber dafür eine nachwirkende, weil ganz persönlich gehaltene Darstellung globaler Flucht- und Migrationsbewegungen und damit ein Werk, das so menschlich ist wie unzureichend, so verstörend wie aufschlussreich – und vor allem eins: dringend notwendig.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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