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On Body and Soul

Am unromantischsten aller Orte, einem Schlachthaus in Budapest, kommen sich zwei verschlossene Einzelgänger näher. Eine berührende Liebesgeschichte wird erzählt, mit bescheidensten Mitteln und langer Nachwirkung.

Text: Doris Senn / 05. Dez. 2017

Zwei Hirsche, ein Paar, stapfen ohne Hast durch den kahlen, verschneiten Wald. Die Hirschkuh hält inne. Der Hirsch mit seinem mächtigen Geweih wird dessen gewahr. Geht zurück. Bedächtig. Beschnuppert das Weibchen. Legt seinen Kopf auf dessen Rücken – wie eine sanfte Liebkosung. Sie verharren einen Moment, um dann weiterzuziehen. Gemeinsam.
Traumverloren beginnt On Body and Soul mit diesem magischen Tierpaar im leise fallenden Schnee. Die idyllische Szenerie verzaubert auf Anhieb, lässt den Atem anhalten, dem lautlosen Austausch folgen, der sich zwischen den beiden mystischen Wesen entspinnt. Um uns dann mit einem harten Schnitt in eine ganz andere Realität zu versetzen: Wieder sehen wir Tiere, Kühe diesmal, die Hufe im Schmutz, dicht gedrängt. Am nächsten Tag sollen sie geschlachtet werden. Wir sehen ihre grossen, schönen Augen, spähen wie sie zwischen den Planken des Verschlags hindurch: auf rauchende Arbeiter im blutverschmierten Übergewand, auf die kleine weisse Sonne, die durch die Wolken hindurch ihre Strahlen entfaltet. Und für einen Augenblick scheinen auch wir deren Wärme zu spüren – wie die Figuren im Film: die Putzfrau, die ihren Besen für einen Moment ruhen lässt, Maria, die auf den Bus wartet, um ihren ersten Arbeitstag anzutreten, und auch Endre, der Leiter des Betriebs, der sich für einen Augenblick ans offene Fenster stellt. Denn ja, dies ist der andere Schauplatz in On Body and Soul: ein Schlachthof, sein kruder Alltag und der Mikrokosmos der dort Arbeitenden.
In diesen taucht der Film der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi ein – um immer wieder Sequenzen jener märchenhaften Auenlandschaft mit dem Hirschpaar dazwischenzuschieben. Es ist ein Traum, wie wir erfahren, und zwar einer, den zwei Menschen gleichzeitig träumen. Jede Nacht. Dasselbe aus einer je anderen Perspektive: der von Maria, die Angst hat vor den Menschen, vor Berührungen, dafür akribisch genau ihre Umgebung wahrnimmt und sie in ihrer Erinnerung ablegt, und der von Endre, mit seinem zerfurchten Gesicht und dem gelähmten Arm, der mit der Liebe abgeschlossen hat, wie er sagt, seine Abende vor dem Fernseher verbringt, aber als umsichtiger Chef des Betriebs waltet. Maria und Endre sind Hirschkuh und Hirsch in ebenjenen Sequenzen, die den Film strukturieren. Seelenverwandte im wahrsten Sinn des Wortes.

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Einen Film über die Conditio humana wollte die 61-jährige Regisseurin schaffen, die auf eine wenige Titel umfassende, aber erlesene Filmografie zurückschauen kann. Mit ihrem Erstling, My 20th Century (1989), gewann sie auf Anhieb die Caméra d’Or in Cannes. Es folgten die einfühlsam erzählte Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Erwachsenen, Tamás és Juli (1997), sowie der surrealistische Simon Magus (1999) über einen Magier, der einen Kriminalfall in Paris auflösen soll. Nun, mit ihrem ersten Langfilm nach 18 Jahren, gewann Enyedi im Februar den Goldenen Bären in Berlin. Wobei sie in der Zwischenzeit viele Projekte gewälzt und verworfen, aber auch viel unterrichtet und zuletzt über vier Jahre die TV-Serie Terápia realisiert hatte. Mit On Body and Soul wollte Enyedi eine «überwältigende Liebesgeschichte auf möglichst wenig überwältigende Weise» erzählen. Eine Geschichte vom Leben. Vom Tod. Von der Liebe.
Und so erzählt der Film in narrativer Slowmotion von der Annäherung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine ungewöhnliche Geschichte über die Liebe, für die Enyedi den Handlungsfaden mäandern und viele unvorhergesehene, auch amüsante Wendungen nehmen lässt, die sich zu einem einnehmenden Bildgewebe fügen. Die Farbe Rot, und mit ihr das Element des Bluts, zieht sich als symbolhaftes Leitmotiv durch das kleine Epos und versinnbildlicht das Leben ebenso wie die Liebe und den Tod. Dies alles mit einer exquisiten Bild- und Farbkomposition, die die Magie der Erzählung auch auf formaler Ebene voll und ganz entfalten lassen.

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Für die Protagonisten setzte die Regisseurin auf unbekannte Namen und machte grossartige Entdeckungen: Die 30-jährige Theater- und TV-Schauspielerin Alexandra Borbély mit ihren Rehaugen ist in ihrem Filmdebüt zu sehen – und der 65-jährige Géza Morcsányi hat hier erstmals überhaupt eine Schauspielrolle inne. Trat Borbély in ihren bisherigen Rollen meist als extrovertierte, erotisch-dynamische Frau auf, verkörpert sie hier die verschlossene, unterkühlte Maria mit autistischen Zügen, die sich den Zugang zum Leben, zu anderen Menschen, aber auch zu den eigenen Emotionen richtiggehend erkämpfen muss. Morcsányi nutzt das Charisma seiner realen Person: Als namhafter Verleger hat er mit den grossen Schriftstellern Ungarns (Imre Kertész, Péter Esterhazy) ­gearbeitet und so die ungarische Literaturszene der letzten Jahrzehnte wesentlich mitgeprägt. Sein Endre ist ein glaubhaft integerer, besonnener Mensch, der von seinen Angestellten nichts weniger als ein «Bedauern» für die zu schlachtenden Tiere erwartet.

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Sanft lässt On Body and Soul uns seinen ungewöhnlichen Figuren nahekommen, während die nicht minder ungewöhnliche Geschichte ihren Lauf nimmt – auf ganz unaufgeregte Art und Weise. Und wenn die beiden Hauptfiguren dann tatsächlich zusammenfinden, sie unversehens die Liebe im realen Leben finden, die sie in ihrem Traum verkörperten und herbeisehnten, lässt der Film in uns noch lange über sein Ende hinaus die Schwingungen des Glücks und seiner magischen ­Poesie nachklingen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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