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Dias de gracia

Mexikanisches Kino

Gleichsam als Kontrapunkt zur politisch-gesellschaftlichen Krise, in der sich Mexiko befindet, hat sein Filmschaffen in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt. Vor allem ist das Spektrum viel grösser geworden: Während sich einige Star-Regisseure und ‑Schauspieler international etabliert haben, entsteht eine jährlich wachsende, stilistisch aussergewöhnlich vielfältige Zahl von Produktionen mit mittleren und kleinen Budgets.

Text: Michael Pfister / 25. Juli 2012

Mit der Einladung Mexikos an den Branchenanlass «Carte Blanche», der Verleihung eines von zwei «Excellence Awards Moët & Chandon» an Gael García Bernal und der Teilnahme von drei mexikanischen Regisseuren in drei Wettbewerben – Pedro Gonzales Rubio nimmt mit seinem zweiten Film Inori im kleinen Wettbewerb «Cineasti del presente» teil, Sebastien Hofmann mit Ismael im internationalen Kurzfilmwettbewerb «Pardi di domani» und schliesslich der junge Regisseur Nicolás Pereda mit seinem neuen Film Los mejores temas im Hauptwettbewerb «Concorso internazionale» – hat Mexiko am diesjährigen Filmfestival Locarno eine starke sektionenübergreifende Präsenz. Der Zeitpunkt ist gut gewählt: Gleichsam als Kontrapunkt zur politisch-gesellschaftlichen Krise zwischen Drogenkrieg und Korruption, in der sich das grösste spanischsprachige Land der Welt befindet, hat das mexikanische Filmschaffen in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt. Vor allem ist das Spektrum viel grösser geworden: Während sich einige Star-Regisseure und -Schauspieler international etabliert haben, entsteht eine jährlich wachsende, stilistisch aussergewöhnlich vielfältige Zahl von Produktionen mit mittleren und kleinen Budgets.

Goldenes Zeitalter und Niedergang

Dabei ist es ja nicht selbstverständlich, dass alles immer grösser und immer besser wird. Der unbestrittene Zenit der mexikanischen Filmgeschichte liegt ein gutes halbes Jahrhundert zurück: Im Jahr 1958 wurden in Mexiko, bei einer Bevölkerung von damals gut 30 Millionen, 135 Filme produziert. 2011 waren es, bei einer Bevölkerung von über 110 Millionen, etwa halb so viele, nämlich 72. Dazwischen liegt ein brutaler Absturz: Im Jahr 1997 brachte es das mexikanische Kino gerade noch auf 9 Produktionen.

Die Mexikanische Revolution begann 1910 und dauerte bis tief in die zwanziger Jahre hinein. Sozial gesehen war die Revolution eine Koproduktion von ungebildeten, zum Teil analphabetischen Generälen wie Pancho Villa oder Álvaro Obregón und Intellektuellen wie dem Kultur- und Erziehungsminister José Vasconcelos. Die kulturelle Blüte, die das postrevolutionäre Mexiko in den zwanziger und dreissiger Jahren erlebte, wurde zusätzlich verstärkt durch die intensive Einwanderung von Künstlern, die vor den faschistischen und totalitären Regimes in Deutschland, Spanien, Italien und der Sowjetunion flüchteten. Schon in den dreissiger Jahren übernahm Mexiko die Führungsrolle im spanischsprachigen Kino – mit Filmen wie Allá en el rancho grande (1936) von Fernando de Fuentes oder Así es mi tierra (1937) von dem Russen Arcadi Boytler, der mit Sergei Eisenstein im Kontext von dessen Projekt Qué viva méxico (1930–32) nach Mexiko gekommen war. Hollywood, das zu Beginn der Tonfilm-Ära auch einige spanischsprachige Filme produzierte, zog sich aus dem Markt zurück, die Konkurrenz aus Spanien wurde durch den Bürgerkrieg und die Machtergreifung Francos gebremst, diejenige Argentiniens durch dessen Neutralität im Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu diesen Ländern profitierte Mexiko, das den Alliierten sogar seine Luftwaffe zur Verfügung stellte, von den Investitionen der USA. Im Jahr 1943 liefen in venezolanischen Kinos 39, in kolumbischen 26 mexikanische Filme. Zwar wurden bewusst auch lateinamerikanische Grossthemen gewählt, etwa mit dem Riesenprojekt Simon Bolívar (1942, Regie: Miguel Contreras Torres) über den in Kolumbien, Venezuela, Bolivien, Peru und Ecuador verehrten Freiheitskämpfer. Das Verblüffendste ist aber, dass sich Mexiko den spanischsprachigen Markt vor allem mit urmexikanischen Melodramen und Komödien eroberte.

Alte filme

Die Filme von Regisseuren wie Emilio «Indio» Fernández, Ismael Rodríguez, Alejandro Galindo oder Roberto Gavaldón entsprachen zu einem grossen Teil dem ästhetischen Ideal der mexicanidad, das von den Kulturideologen der Revolution zur Bekräftigung einer mestizischen, wenn nicht sogar indianischen und vorzugsweise ländlichen Identität gewählt wurde und das sich auch in der Malerei von Frida Kahlo und Diego Rivera spiegelt. Der Zauber des Mythisch-Folkloristischen spielte ähnlich reibungslos wie in Europa die karge Western-Ästhetik von John Ford oder in jüngerer Zeit (und in geringerem Ausmass) die Bollywood-Exotik. Familienkonflikte auf Haciendas, romantische Liebesabenteuer von singenden mexikanischen Charros (Cowboys) und vor allem die comedia ranchera wurden als Vehikel für junge und ältere Stars beiderlei Geschlechts inszeniert. Wenn der Schauspieler und Sänger Jorge Negrete in Chile auftrat, fielen die Damen reihenweise in Ohnmacht. Der zweite männliche Star war Pedro Infante, weniger der harte Macho als der charmante Schelm – in Mexiko wohl bis heute der populärste Schauspieler aller Zeiten, vielleicht auch aufgrund seines frühen Todes 1957 bei einem Flugzeugabsturz. Einen etwas brutaleren, naturwüchsigeren Typ verkörperte schliesslich Pedro Armendáriz.

Bei den Divas des mexikanischen Kinos dominieren zwei Namen: Dolores del Río, die in den zwanziger und dreissiger Jahren in Hollywood an der Seite von Rudolph Valentino Furore und in den vierziger und fünfziger Jahren in ihrer Heimat eine zweite Karriere machte; und María Félix, genannt «La Doña», die distanzierte Femme fatale des mexikanischen Kinos. Kommerziell und international mindestens so erfolgreich wie die leidenschaftlichen Melodramen waren die Komödien von Cantinflas (Mario Moreno), Tin Tan (Germán Valdés) und Joaquín Pardavé, die oft auch viel Milieuschilderung und sozialkritischen Sprengstoff enthielten. Denn mexikanisches Kino war schon in der «Época de Oro», dem Goldenen Zeitalter (circa von 1936 bis 1957) nicht nur Kitsch und Glamour. Sozialkritische Werke wie Maria Candelaria von Emilio Fernández, das 1943 in Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde, oder Los olvidados, mit dem der eingebürgerte Spanier Luis Buñuel den Grundstein seiner zweiten Karriere legte und 1950 die Goldene Palme gewann, profitierten vom europäischen Interesse, um auch in Mexiko die verdiente Anerkennung zu erlangen.

In den sechziger und siebziger Jahren wurde die internationale Ausstrahlung des mexikanischen Kinos schwächer. Nun dominierten urbanere Familiendramen, Horrorfilme (zum Beispiel von Carlos Enrique Taboada), Komödien um die «India María» und vor allem die Action-Filme mit dem Lucha-Libre-Kämpfer «El Santo», die heute auch in Europa wiederentdeckt werden. Die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die in einer Art Einparteiendiktatur zwischen 1929 und 2000 ununterbrochen regierte und, nach einer zwölfjährigen Pause, soeben wieder an die Macht zurückgekehrt ist, betrieb durchaus Kulturförderung, aber in Form von Nepotismus und Günstlingswirtschaft. In der Regierungszeit des Präsidenten José López Portillo (1976–1982) wurde die Filmförderung gekürzt und von der Schwester des Präsidenten verwaltet.

Wohl als Reaktion darauf wurde 1982, unter dem Präsidenten Miguel de la Madrid, das Mexikanische Filminstitut IMCINE ins Leben gerufen. Zunächst verfügte es jedoch über wenig Mittel und konnte den steten Niedergang der nationalen Filmproduktion nicht aufhalten. Nach den in Europa erfolgreichen Beziehungsdramen Arturo Ripsteins und international beachteten Werken wie Frida, naturaleza viva (Paul Leduc, 1986, über das Leben Frida Kahlos), politisch engagierten Filmen des «Cine Nuevo» wie Los motivos de luz (Felipe Cazals, 1985) oder Rojo amanecer (Jorge Fons, 1989, über das Massaker von Tlatelolco, mit dem die Regierung 1968 demonstrierende Studenten eliminierte) und dem kitschigen Como agua para chocolate, mit dem Autorin Laura Esquivel und Regisseur Alfonso Arau 1992 die mexicanidad als Liebe-geht-durch-den-Magen-Story wieder aufleben liessen, sank die Produktion zwischen 1994 und 2002 auf das tiefste Niveau seit Anfang der dreissiger Jahre. Ein wichtiger Grund dafür war wohl die radikal neoliberale Politik des Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, der auch Mexikos Eintritt in die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA realisierte und zum Ende seiner Amtszeit eine happige Wirtschaftskrise und einen tiefen Absturz des Peso hinterliess.

Miss bala 03

Gael García Bernal: das neue Gesicht Mexikos

Doch obwohl der im Jahr 2000 gewählte Vicente Fox, der erste Nicht-PRI-Präsident, aus schierem Desinteresse an Kultur die staatliche Filmschule CCC (Centro de Capacitación Cinematográfica) schliessen und die legendären Estudios Churubusco verkaufen wollte, gebar sich das mexikanische Kino zur Jahrtausendwende neu. In zwei dabei entscheidenden Filmen spielte Gael García Bernal eine Hauptrolle, der heuer in Locarno mit erst dreiunddreissig Jahren für sein (bisheriges) Lebenswerk ausgezeichnet wird. Als Träger des Excellence Awards tritt García Bernal in die Fussstapfen von unter anderem John Malkovich, Michel Piccoli, Chiara Mastroianni oder Isabelle Huppert. Der mexikanisch-amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Fernando Zamora schrieb einmal: «In Europa hat Mexiko heute zwei Gesichter: Frida Kahlo und Gael García Bernal.»

Als Sohn eines Schauspielerpaares stand Gael schon mit neun Jahren auf einer Theaterbühne, und zwar zusammen mit Diego Luna, der schon damals sein bester Freund war. Die beiden haben in drei Filmen zusammengespielt und besitzen heute gemeinsam die in Mexiko-Stadt ansässige Produktionsfirma Canana Productions. Aufgrund seiner Hauptrolle in der Telenovela El abuelo y yo erlangte Gael schon als Teenager nationale Berühmtheit, vor der er nach London floh, um an der Central School of Speech and Drama Schauspiel zu studieren. Doch bevor er sein Diplom machte, holte ihn der Ruhm ein. Alejandro González Iñárritu engagierte ihn für Amores perros (2000). Auch wenn man die technische Brillanz dieses Films als kühl und seinen Inhalt als gar illusionslosen Darwinismus empfinden mag, ist diese raffiniert in die Lebensläufe dreier Männer aus verschiedenen Generationen verwobene Geschichte über Fressen und Gefressenwerden ein Meilenstein in der Renaissance des mexikanischen Kinos. Für seine Leistung erhielt der erst einundzwanzigjährige Gael García Bernal gleich den Ariel, den nationalen Filmpreis Mexikos, für die beste männliche Hauptrolle.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Das cine buena onda, das Kino der guten Laune, triumphierte mit Alfonso Cuaróns Roadmovie Y tu mamá también (2001), in dem García Bernal und Diego Luna um eine deutlich ältere Spanierin balzen und sich unter deren kundiger Führung schliesslich gegenseitig küssen. Dieser Film war in Mexiko sogar noch erfolgreicher als Amores perros. Beide eroberten auch den internationalen Markt – im Gegensatz zum aller-erfolgreichsten mexikanischen Film der jüngeren Geschichte, der im katholischen Mexiko aufgrund des Skandals und der Rufe nach Zensur 5,2 Millionen Zuschauer ins Kino lockte: In El crimen del padre amaro (Regie: Carlos Carrera, 2002), einer konventionellen und auch etwas holprigen Adaptation eines portugiesischen Romans aus dem Jahr 1875 für das Mexiko der Jahrtausendwende, spielt Gael García Bernal einen jungen Priester, der mit einem seiner Schäfchen sein Zölibatsgelübde bricht und seine Geliebte schwängert. Für García Bernal eine Paraderolle: ein engelsgleicher junger Mann, Traum jeder Schwiegermutter, der umso tiefer fällt.

In den folgenden Jahren eroberte sich der Jungstar aber auch die internationalen Sets und wirkte in argentinischen, französischen, US-amerikanischen und spanischen Produktionen mit. Pedro Almodóvar entdeckte die weibliche Seite Gaels und liess ihn in La mala educación (2004) als Transvestiten auftreten. Den politischen Neigungen des jungen Schauspielers, der mit vierzehn Jahren Huichol-Indianern das Lesen beigebracht und mit fünfzehn für die zapatistische Autonomiebewegung um den Subcomandante Marcos auf die Strasse gegangen war, entsprach es, dass er zweimal Che Guevara verkörperte: im Fernsehfilm Fidel (2002) und in den Diarios de motocicleta (2004) von Walter Salles über die Südamerikareise des jungen Che. García Bernal engagierte sich unter anderem für Amnesty International, Fairtrade, die Aid for Aids Foundation und begleitete die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson durch Mexiko.

Auch García Bernals Regie-Debüt Déficit (2007) ist eine politisch engagierte Kritik der in Mexiko gängigen Korruption. In También la lluvia (2010) von Icíar Bollaín spielt García Bernal einen Regisseur, der in Bolivien einen Film über den kirchlichen Widerstand gegen die unmenschliche Behandlung der Indigenen durch die Konquistadoren dreht und dabei merkt, dass sich auch seine indianischen Darstellerinnen und Darsteller noch immer gegen die spätkolonialistischen Repressionen durch hellhäutige Oberschichten wehren müssen. Anlässlich der Verleihung des Excellence Awards zeigt das Filmfestival Locarno No, den neuen Film des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín, in dem García Bernal einen ins Ausland geflohenen chilenischen Journalisten spielt, der 1988 in sein Heimatland zurückkehrt, um das Plebiszit gegen den Diktator Pinochet vorzubereiten. Welche Rolle wäre angesichts von so viel Engagement gegen autoritäre Macht eine bessere Kulmination als der mexikanische Superheld Zorro? Und siehe da: Für 2014 hat Twentieth Century Fox Zorro Reborn unter der Regie von Ricardo de Montreuil mit Gael García Bernal in der Titelrolle angekündigt …

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Zeitgemässe «mexicanidad»: Migration, Korruption und Vielfalt

Dabei hat García Bernal, im Unterschied etwa zu seiner Kollegin und Landsfrau Salma Hayek, bisher relativ wenig für Hollywood gearbeitet. Sein erklärter Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ist mehr denn je Mexiko-Stadt. In einem Interview mit «The Independent» erklärt er das damit, dass sich in Mexiko leichter unabhängige Filme mit kleineren Budgets machen liessen: «Wir Mexikaner machen normalerweise Filme, weil wir an das Projekt glauben, und nicht für den Scheck.»

Etliche mexikanische Regisseure haben es in den letzten Jahren zu internationaler Berühmtheit gebracht: Alejandro González Inárritu, in dessen Babel García Bernal 2006 abermals mitwirkte, aber auch Alfonso Cuarón, der einen Harry-Potter-Film drehte, oder der Horror- und Fantasyfreak Guillermo del Toro, der mit Hellboy (2004) und El laberinto del fauno (2007) internationale Erfolge feierte. Ein Superstar auf europäischen Filmfestivals ist Carlos Reygadas, der 2012 mit seinem neusten Film Post tenebras lux in Cannes den Preis für die Beste Regie gewann, dessen Filme aber stets in den kargen Land- und Stadtschaften Mexikos spielen.

Neben diesen bekannten Namen gibt es im mexikanischen Kino unterdessen aber eine Fülle von Debütanten und kreativen Unabhängigen. Nicolás Pereda, der in Locarno am Wettbewerb teilnimmt, ist einer von ihnen. Michael Rowes Año bisiesto (2010) über eine sadomasochistische Beziehung wurde in Cannes mit der Goldenen Kamera für das beste Erstlingswerk ausgezeichnet. Israel Cárdenas aus Monterrey und die aus der Dominikanischen Republik stammende Laura Amelia Guzmán haben mit Cochochi (2007) einen Film in der indigenen Sprache Rarámuri gedreht – produziert übrigens von Canana Productions.

Die Vielfalt von Formen und Inhalten widerstrebt jeder Typologisierung. Während in den künstlerischen Autorenfilmen oft zwischenmenschliche Konflikte und die Darstellung sozialer Verhältnisse im Vordergrund stehen, sind die in Mexiko selber kommerziell erfolgreichen Filme oft schräge Komödien – wie etwa Salvando al soldado perez (2011, Regie: Beto Gómez) über einen mexikanischen Drogenkriminellen, der seinen Bruder aus dem Irak-Krieg heraushaut; der für Nicht-Mexikaner schwer zugängliche, mit dem Ariel 2012 ausgezeichnete Pastorela (2011, Regie: Emilio Portes) über einen Polizisten, der im Weihnachtstheater nicht länger den Teufel spielen darf – oder die bissig-fulminante Narco-Satire El infierno (2010) von Luis Estrada. In den beiden letzten Filmen spielt Joaquín Cosío mit, eine Saftwurzel mexikanischer Schauspielkunst und in seiner wuchtigen Komik eine Art Gegenpart zum feinen, gern nachdenklichen García Bernal.

Cochochi 03

«Wenn es noch so etwas wie eine mexicanidad im Kino gibt», sagt Maru Garzón, Direktorin für Internationalen Vertrieb und Promotion im nationalen Filminstitut IMCINE, «dann besteht sie nicht mehr in Haciendas und Sombreros, sondern in Themen wie Migration, Drogenkriminalität und Korruption.» Cary Fukunagas harter Sin nombre (2009) über die dramatische Liebesgeschichte zwischen einer honduranischen Migrantin und dem Angehörigen einer Mara schaffte es auch auf Schweizer Leinwände. Für andere, nicht weniger sehenswerte Filme gilt das leider nicht: Norteado (2009) von Rigoberto Perezcano erzählt von einem Mexikaner, der nach mehreren gescheiterten Versuchen, die US-Grenze zu überqueren, in Tijuana strandet. Bala mordida (2009) von Diego Múñoz und Everardo Gouts Erstling Días de gracia (2011), der mit seinem rasanten Rhythmus in der Tradition von Amores perros steht, demaskieren die Korruption der Polizei. Und der vielleicht eindrücklichste mexikanische Film der letzten Jahre, Miss bala (2011) von Gerardo Naranjo, der in der Schweiz nur am Festival International de Film de Fribourg zu sehen war, erzählt die auf Tatsachen beruhende Geschichte einer regionalen Schönheitskönigin, die von einem Anführer einer Drogenbande zunächst protegiert, dann praktisch entführt und vollständig instrumentalisiert wird – das Porträt einer Welt, die sich durchaus auch ausserhalb der gewaltträchtigen Regionen Mexikos ausbreitet und in der die Menschen jegliche Entscheidungskraft abgegeben haben und zwischen Autos, Geldscheinen und Waffen nurmehr eine Nebenrolle spielen. Naranjos Gesellschaftsanalyse ist ähnlich bestechend und beklemmend wie diejenige, die sein in Uruguay geborener, aber in Mexiko lebender und arbeitender Kollege Rodrigo Plá in La zona (2007) in Bezug auf die galoppierende Privatisierung aller Lebensbereiche in den wuchernden Gated Communities heutiger Grossstädte vorgenommen hat.

Deutlich zugelegt hat in den letzten Jahren die Sparte Dokumentarfilm: Kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 kam Gimme the Power des bekannten Radiomoderators Olallo Rubio in die Kinos, der die auch in Europa bekannte Band «Molotov» porträtiert und deren «Soundtrack unseres Unbehagens» (wie es der Schriftsteller Juan Villoro auf den Punkt bringt) ironisch-kritisch in den Kontext der mexikanischen Geschichte stellt. El lugar más pequeño von Tatiana Huezo über das Leben in einem Dorf in El Salvador nach dem Krieg erhielt 2011 eine Vielzahl von Preisen, unter anderem den Hauptpreis von «Visions du Réel» in Nyon. Der bisher erfolgreichste Dokumentarfilm Mexikos verzeichnete 2011 1,7 Millionen Eintritte, auch weil er zeitweise verboten wurde. Presunto culpable von Roberto Hernández, Layda Negrete und Geoffrey Smith dokumentiert den erfolgreichen Kampf eines Anwaltspaars für einen jungen Markthändler, der völlig willkürlich des Mordes schuldig gesprochen und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde.

Unterdessen unterstützt IMCINE rund achtzig Prozent der jährlichen Filmproduktion mit einer Gesamtsumme von über 40 Millionen Franken – seit einigen Jahren gewährt der Staat Firmen Steuererleichterungen, wenn sie in die nationale Filmproduktion investieren. Doch wie Hugo Villa, Direktor für die Förderung der nationalen Filmproduktion, erklärt, besteht das Hauptproblem für junge mexikanische Regisseure darin, dauerhaft Fuss zu fassen: «Rund die Hälfte der jährlich entstehenden Filme sind Erstlingswerke. Ein beträchtlicher Teil besteht aus zweiten oder dritten Filmen.» Das spiegelt sich auch in der Auswahl von mexikanischen Filmen, die das Filmfestival Locarno für das Branchenprogramm Carte Blanche eingeladen hat, das heuer zum zweiten Mal durchgeführt wird: Von sieben Filmen, die sich im Stadium der Postproduktion befinden und Investoren suchen, um die Fertigstellung zu sichern, sind drei Debütfilme und vier Zweitlinge. Bei einem Teilnehmer handelt es sich freilich um einen alten Bekannten: Enrique Rivero, der mit Parque vía 2008 den Goldenen Leoparden gewonnen hat, stellt im Rahmen der Carte Blanche seinen neuen Film Mai morire vor.

Der Bedarf an ausländischen Investitionen ist in Mexiko immer noch hoch: 2010 waren nur 10 von 69 Filmen internationale Koproduktionen, 2011 14 von 73. Es ist zu hoffen, dass das Fenster der Carte Blanche nicht nur dazu beiträgt, dass mehr Nachwuchsregisseurinnen und -regisseure der Sprung in eine kontinuierliche Karriere gelingt, sondern auch dazu, dass mehr mexikanische Filme im regulären Kinoprogramm europäischer Länder gesehen werden können. In Frankreich oder Spanien sind es etwa ein halbes Dutzend pro Jahr, in der Schweiz manchmal einer oder zwei, manchmal gar keiner.

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