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Coeur Animal

Hoch oben im Gebirge lebt ein Bauernpaar in Stille nach patriarchalen Werten und archaischen Gesetzten. Die Berge und die Körper der Protagonisten dienen als Projektionsfläche für die eigenen Ängste und Abgründe.

Text: Lara Sascha Bleuler / 26. Mai 2010

Der Bauer Paul fährt mit seinem Alpenfahrzeug über eine Geröllhalde hinab, zielsicher steuert er sein Gefährt übers Gestein, eine Hand am Lenkrad, die andere am Schaltknüppel – dieser Mann kennt das Gelände und seine Tücken. Dichte Nebelschwaden verdecken die Sicht, Ziegen flüchten aus dem Bild, und Paul schaut kritisch zum Himmel, als könne er mit seinem grimmigen Adlerblick die Wolken vertreiben. Die ersten Bilder von Cœur animal sind metaphorisch dicht aufgeladen und entführen uns in eine Welt, in der noch ganz andere, archaische Gesetze herrschen, hoch oben in den Bergen, über der Baumgrenze, wo der Mensch vom Vieh als Nutztier lebt, der Natur trotzt und einen instinktgesteuerten Überlebenskampf führt. Diese ersten Bilder schaffen aber auch etwas, was selten geworden ist im Schweizer Film, sie beweisen Mut zur Stille und führen die Hauptfigur nicht über Worte, sondern über das genaue Beobachten der ihr eigenen Körperlichkeit bei ihrer ganz alltäglichen Arbeit ein. Dies lässt Raum und Zeit, sich in dieser ungewohnt kargen Alpenwelt zurechtzufinden, den Protagonisten zu begegnen und vorsichtig in ihre psychologisch zerrütteten Seelenwelten einzudringen.

Auch Pauls Ehefrau, die Bäuerin Rosine, wird vorerst über ihren Körper eingeführt. Der Bildausschnitt zeigt zwei grosse grüne Gummistiefel, in die zierliche Frauenbeine schlüpfen, dann schwenkt die Kamera nach oben und erfasst die Dynamik der hübschen Bäuerin, die in den Stall geht. Ihre dünne Gestalt und die etwas zu sauberen Kleider scheinen seltsam entrückt, ihr zartes Gesicht erinnert an ein verängstigtes Reh, das sich auf dünnem Eis bewegt. Sie hat Angst vor ihrem Mann, das wird in ihrem ersten Blick, den sie ihm zuwirft, klar. Bezeichnenderweise ist auch das erste Wort, das Paul frühmorgens seiner noch schlafenden Frau zu zischt, ein Befehl: «Allez!» Rosine kämpft sich trotz Unterleibsschmerzen aus dem Bett und macht sich auf, die Kühe zu melken. Die routinierte Arbeitsteilung des Bauernpaares ist klar strukturiert, gesprochen wird wenig, die stummen Konflikte werden über die spannungsgeladenen Blicke ausgetragen.

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Hier oben herrschen patriarchalische Werte, Gehorsam der Frau und ihre Nutzung als Arbeitskraft wird vom Bauern mit derselben Selbstverständlichkeit vor-ausgesetzt wie er sich später im Stall ihren Körper zu eigen macht; ein Stück Fleisch, an dem er seine animalischen Triebe abreagieren kann. Der grobschlächtige Geschlechtsverkehr dauert beklemmende fünfzig Sekunden, der keuchende Körper von Paul drescht von hinten auf Rosine ein, und sein Stöhnen mischt sich mit dem rhythmischen Sauggeräusch der Melkmaschine. Später, beim Betrachten der frischgeschlüpften Kücken unter der Wärmelampe, ein kurzer Moment der Ruhe und ein Hauch von Harmonie. Beim Abendessen interpretiert der Bauer Rosines Bauchschmerzen als Schwangerschaft, und auf seinem zerfurchten Gesicht schimmert ein stolzes Lächeln durch, sein Kinderwunsch klingt wie eine Drohung, die keinen Widerspruch duldet. Sogleich heuert Paul in der Dorfbeiz einen spanischen Saisonnier an, der seine Frau entlasten soll. Obwohl Eusebio, von Paul abschätzig nur «l’Espagne» genannt, zu einem Hungerlohn auf dem Hof schuften muss und vom Bauer nicht minder hart behandelt wird wie Rosine, hat er stets ein Lächeln auf den Lippen und kontert mit einer Mischung aus spanischem Zorn und Charme. Zwischen ihm und Rosine entsteht eine stillschweigende Verbundenheit, vom cholerischen Bauern eifersüchtig beäugt. Als Paul die beiden in einer stürmischen Gewitternacht der Untreue verdächtigt, prügelt er Rosine nahezu bewusstlos. Eusebio ruft den Rettungshelikopter, dieser entschwebt über dem wild brüllenden Paul und bringt die Verletzte ins Krankenhaus, wo sie erfahren muss, dass ein Gebärmuttertumor die Ursache ihrer Bauchschmerzen ist.

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Während Rosines Abwesenheit beginnt für Paul ein schmerzvoller Prozess der Läuterung. Man rechnet es dem Film hoch an, dass er hier nicht in die Falle der dramatisierenden Parallelmontage tappt, die in amerikanischen Dramen oft hemmungslos überstrapaziert wird. Stattdessen greift die Regisseurin zu einem formalen Kunstgriff und bleibt während der gesamten Abwesenheit von Rosine an der Seite ihrer unbequemen Hauptfigur. Der Bauer besiegt nach und nach seine inneren Dämonen und schafft durch die Annäherung an den treuen Eusebio einen ersten zaghaften Schritt in Richtung menschlicher Nähe. Séverine Cornamusaz, die im Vorspann den Roman «Rapport aux bêtes» von Noëlle Revaz als Inspiration angibt und im Abspann den Film ihrer Grossmutter Rosine widmet, inszeniert die kontrastreichen Szenen stilsicher und legt einen starken Debutfilm vor, der als würdiger Erbe des unvergesslichen Schweizer Bergdramas Höhenfeuer bestehen kann. Wie schon Fredi M. Murer bleibt Cornamusaz bedrängend nahe an ihren Hauptfiguren dran, beweist das richtige Gespür für die Dosierung von stillen Alltagsdetails und berstender Aggression und schafft so eine zwischenmenschliche Intensität, dass einem der Atem stockt. Die Berge, die immer wieder durch längere Zwischenschnitte ins Bild kommen, scheinen die Stimmungslagen der Protagonisten zu spiegeln – von einem leicht bedrohlich wirkenden Klangteppich untermalt sind sie, einem griechischen Chor gleich, felsige Zeugen des Geschehens. Sie dienen dem Zuschauer als Projektionsfläche für die eigenen Ängste und dunklen Abgründe, denen sich die Figuren in Cœur animal instinktgetrieben entgegenwerfen. In dieser archaischen Körperlichkeit liegt die Stärke des Films, und es ist nur konsequent auf einem Bild des engumschlungenen Bauernpaares zu enden, das sich, zwei Tieren gleich, nach schmerzlichem Kampf, wieder zitternd aneinanderschmiegt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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