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Die vaterlosen 03

Die Vaterlosen

Was hinterlassen Väter, die durch ihre Egozentrik und Abwesenheit definiert waren, ihren Kindern nach dem Tod? Ein noch grösseres Loch, das es dann, wenn das Objekt der Begierde sich den unerfüllten Sehnsüchten ganz entzogen hat, umso mehr zu stopfen gilt. Marie Kreutzers Debutfilm setzt ein, als Hans, ichbezogener Hippie-Vater par excellence, seine Kinder an sein Sterbebett ruft.

Text: Lara Sascha Bleuler / 18. Mai 2011

Was hinterlassen Väter, die schon zu Lebzeiten durch ihre Egozentrik und Abwesenheit definiert waren, nach ihrem Dahinscheiden ihren Kindern? Ein noch grösseres Loch, das es nun, da das Objekt der Begierde sich den unerfüllten Sehnsüchten ganz entzogen hat, umso mehr zu stopfen gilt. Eine ganze Palette von emotionalen Kompensationen bietet sich an – Wut, Anklage, Idealisierung, Identifizierung, Abgrenzung, Verzeihen. Marie Kreutzers Debutfilm setzt ein, als Hans, ichbezogener Hippie-Vater par excellence, seine Kinder an sein Sterbebett ruft. Mit seiner jüngeren Frau Anna verbrachte er – nach der wilden Hochkonjunktur der alternativen Kommune in den Achtzigern – die letzten Jahre krank auf seinem abgeschiedenen Landgut. Pflegesohn Niki, ein gewissenhafter Arzt, kommt gerade noch rechtzeitig, um den Todkranken zu verabschieden. Der Vater gibt Niki in einer seltsamen Mischung aus Verachtung und Wohlwollen letzte Worte auf den Weg, Worte voller Ambivalenz von Härte und Herzlichkeit, was Hans wohl auch zu Lebzeiten auszeichnete. Der selbsternannte Rebell hinterlässt drei weitere Sprösslinge: Vito, Mizzi und Kyra. Letztere hat ihren Vater seit 23 Jahren nicht mehr gesehen; damals musste sie mit ihrer Mutter die Wohngemeinschaft verlassen. Später wird klar werden, dass ein grosses Familiengeheimnis zu dieser abrupten Abreise führte, die insbesondere die starke Bindung zwischen Niki und Kyra zutiefst erschütterte.

Nun sind sie alle versammelt, um die emotionalen Scherben, die Hans hinterlassen hat, zu ordnen. Doch, wie Kyra treffend sagen wird, «eine zerbrochene Vase kann man zwar kleben, aber man kann nie wieder Wasser reinfüllen!» Bis zu dieser nüchternen Einsicht wird erstmals viel gestritten, geweint, gelacht und gekifft. Die Geschwister, welche die letzten Jahre verstreut in Deutschland und Österreich gelebt haben, nähern sich einander quasi seiltänzelnd an, um sich dann wieder in heftigstem Unverständnis zurückzustossen.

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Verzweifelt klammern sich die unterschiedlich zu kurz gekommenen Kinder an die Hinterlassenschaft von Hans – Tagebücher, Zeichnungen, Platten, Tonbandaufnahmen werden herumgereicht, versteckt und vertauscht. Auch sein lachsfarbener Blumen-Blazer macht die Runde; jedes der Kinder wird ihn einmal während des Film tragen. Es ist der Regisseurin hoch anzurechnen, dass sie diese Bindungs-Metapher so fein und nebenbei inszeniert, dass man sie auch übersehen könnte. Überhaupt ist der jungen Österreicherin ein in seinen Zwischentönen herrlich sanftes, aufwühlendes Familiendrama gelungen, das gerade in seinen schlichten Momenten am stärksten zu berühren vermag. Wenn die durch eine neurophysische Störung beeinträchtigte Mizzi sich schüchtern ihrer neugewonnenen Halbschwester Kyra annähert und mit einem hoffnungsvollen Seitenblick ihre ganze Verletzlichkeit preisgibt, dann fühlt sich der Zuschauer in seiner eigenen, intimen Sehnsucht nach familiärer Nähe ertappt.

Allzu rigoros und teilweise arg künstlich hingegen sind die zahlreichen überbelichteten Flashbacks komponiert, die Hans und die Kinder während der Blütezeit der Hippie-Kommune zeigen. In unmotivierten Einstellungen in Zeitlupe wird Hans als grinsender, freiheitsbesessener Mann demontiert, der sich für seine Kinder nicht wirklich interessiert, es sei denn, es diene seiner Selbstinszenierung. Die Wohngemeinschaft mit ihrem überzeichneten Idealismus von Freiheit und polygamem Lebensstil eignet sich nur zu gut, um von heutigen Kinogängern belächelt zu werden. Dazu bietet uns Kreutzer mit den formal abgetrennten Ausflügen in die Vergangenheit auch reichlich Gelegenheit, sie verliert sich streckenweise auch in überspitzten Klischees.

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Schmerzlich wahr aber ist sicherlich, dass im Wirbel der sexuellen Befreiung viele Kinder gezeugt wurden, die wenig bis gar nichts von ihren Vätern hatten. Dass solche in der Kindheit empfangenen Wunden spätere Beziehungen prägen, ist keineswegs psychologisches Neuland, doch Die Vaterlosen gelingt es, den unterschiedlichsten Strategien dieser verlorenen Kinder nachzuspüren und schafft den emotionalen Drahtseilakt, dass wir uns für jedes einzelne von ihnen interessieren. Die beiden Nebenfiguren, Vitos Freundin Sophie und Kyras postmoderner Lebenspartner Miguel, wirken in ihrer dramaturgischen Funktion als Katalysatoren für das Aufklaffen der familiären Abgründe – aber auch sie sind von diesem Reigen gefangen – wie in Buñuels El angel exterminador – und kommen so schnell nicht davon.

Wie Kreutzer sagt, sei «die Inszenierung eine ständige Suche nach dem Gleichgewicht von Schwere und Leichtigkeit» gewesen. Dieser Balanceakt ist ihr auch weitgehend gelungen. Die einzige Figur, die bei diesem zerzausten Huis clos auf der Strecke bleibt, ist die frisch verwitwete Anna. Ihr dramatischstes Moment wird verfrüht abgehandelt, danach gerät die schöne Mutter bald in Vergessenheit. Doch das verzeiht man der Regisseurin gerne, denn die Präzision mit der sie das Psychogramm der Kinder zu zeichnen vermag, indem sie immer wieder neue Risse aufbrechen lässt, ohne melodramatisch zu werden, ist eine sehr beachtliche Leistung. Die begnadeten Schauspieler danken es ihr und geben den herrlich derben österreichischen Dialogen eine glaubwürdige Vitalität. An der diesjährigen Diagonale wurde Marie Kreutzers Erstling mit Preisen überhäuft – die gebürtige Grazerin hat ihre Feuertaufe bestanden, und der frische Wind, der um sie weht, wird hoffentlich weiterhin Werke von ihr auf unsere Leinwände tragen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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