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Men & Chicken

Freunde kann man sich aussuchen, Familie hat man. Als hätte Anders Thomas Jensen sich diesem Sprichwort für seinen vierten Spielfilm Men & Chicken angenommen, zeigt er uns ein denkbar unterschiedliches Brüderpaar, das zunächst nur in ihrer Rolle als Verlierer der Gesellschaft verbunden scheint.

Text: Marian Petraitis / 17. Juni 2015

Freunde kann man sich aussuchen, Familie hat man. Als hätte Anders Thomas Jensen sich diesem Sprichwort für seinen vierten Spielfilm Men & Chicken angenommen, zeigt er uns ein denkbar unterschiedliches Brüderpaar, das zunächst nur in ihrer Rolle als Verlierer der Gesellschaft verbunden scheint.

Gabriel lehrt Evolutionspsychologie und Philosophie an der Universität, der grosse Durchbruch ist ihm aber verwehrt geblieben. Die Freundin hat ihn schon vor langer Zeit verlassen, und Gabriel fürchtet um den Verlust sowohl seiner Karriere wie seines immer dünner werdenden Haupthaars. Elias hingegen ist gefangen in der eigenen Triebwelt, die sexuellen Obsessionen zwingen ihn zur ständigen Masturbation, und seine verzweifelte Suche nach einer Partnerin endet stets unglücklich. Als ihr Vater stirbt und auf seinem Abschiedsvideo offenbart, dass Elias und Gabriel nur Halbbrüder sind und nicht er, sondern der geheimnisvolle Wissenschaftler Evelio Thanatos ihr leiblicher Vater ist, wittert vor allem Gabriel die Chance, seinem Verliererdasein zu entkommen. Die Brüder reisen zur 40-Seelen-Insel Ork, auf die sich ihr Vater zurückgezogen haben soll. Dort treffen sie jedoch nicht Evelio, sondern drei wunderliche Gestalten an, die sich als ihre Halbbrüder herausstellen. Während Elias sich über die hinzugewonnenen Familienmitglieder freut, versucht Gabriel hartnäckig, seinen Vater aufzuspüren, und deckt dabei immer mehr dunkle Geheimnisse auf.

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Jensen gehört längst zu den wichtigsten und facettenreichsten Stimmen im gegenwärtigen dänischen Kino. Während sich seine Regiearbeiten wie Dänische Delikatessen und Adams Äpfel durch pechschwarzen Humor mit skurrilen Figuren vom Rand der Gesellschaft und unkonventionellen Handlungsverläufen auszeichnen, hat er mit Drehbüchern für Lone Scherfigs Tragikomödie Wilbur Wants To Kill Himself oder Susanne Biers preisgekröntem Drama In einer besseren Welt gezeigt, dass er auch ernstere Töne anschlagen kann. Mit Men & Chicken rückt erneut seine Vorliebe fürs Groteske in den Vordergrund.

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Fast die gesamte Handlung konzentriert sich auf eine verfallene Villa, die neben den drei «neuen» Brüdern eine ganze Reihe von sonderbar deformierten Tieren beherbergt und immer neue Kuriositäten preisgibt. Die Handlung um biologische Experimente und die Erschaffung hybrider Lebensformen zeigt deutliche Nähe zur Phantastik, neben Frankenstein ist vor allem H. G. Wells’ «Die Insel des Dr. Moreau» als Referenz stets präsent. Men & Chicken changiert dabei selbst als Hybrid zwischen Märchen, Horror, Science-Fiction und Familienkomödie. Wenn etwa die Kamera mit dem an den Rollstuhl gefesselten Gabriel, der zunehmend unter Deformationen seines Körpers leidet, die vertrackten Gänge des Anwesens erkundet und immer tiefer in die absurden väterlichen Experimente eintaucht, spielt Men & Chicken gekonnt auf The Shining an. Die Villa wird dabei zu einem zeitlosen Ort, entpuppt sich als Resonanzraum für die archaischen Familienbande, in dem sich die Ängste, Phantasien und Wünsche der «Ausgestossenen» manifestieren, ist aber auch immer wieder Spielwiese für die sich annähernden Brüder.

Zwischen diesen wechseln sich kindlich-spielerische Momente mit abrupten Gewaltausbrüchen ab, friedliche Gutenachtgeschichten verweben sich mit dem Kampf um den Lieblingsteller zu Tisch. Bei aller Skurrilität und Betonung des Abnormalen erzählt Men & Chicken so in erster Linie eine zärtliche Familiengeschichte, in der die aussätzigen Brüder miteinander und über ihre Auseinandersetzung mit dem väterlichen Erbe (und das nimmt der Film wörtlich) den Weg ins Leben finden.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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