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Toni Erdmann

Ein etwas ratloser Winfried wird zu Toni, und sein Schabernack, den er mit seiner Tochter treibt und der zwischen liebevoll-scherzhaft und obsessiv-krankhaft balanciert, sorgt für mehr als nur Heiterkeit. Toni Erdmann ist grossartiges Schauspieler­kino und für viele hätte der Film in Cannes gewinnen sollen.

Text: Lukas Foerster / 22. Juli 2016

«Bist du überhaupt ein Mensch?», fragt Winfried Con­radi seine Tochter Ines im Verlauf einer hitzigen Ausein­­andersetzung; zwar scheint ihm der Satz schon einen Moment später leidzutun, aber er steht nun einmal im Raum. Nicht nur die derart harsch Angegangene muss sich in der Folge zu ihm verhalten, sondern auch der Sprecher selbst; und schliesslich auch der Film, in dem beide agieren, Maren Ades Toni Erdmann. Alle drei lassen sich viel Zeit dafür.

Freie Zeit, und was man damit anfängt: Winfried Conradi hat extra einen Monat Urlaub genommen, um seine Tochter zu besuchen, die als Unternehmensbera­terin in Rumänien beschäftigt ist – jedenfalls sagt er ihr, dass er einen Monat bleibt, man muss ihm nun wirklich nicht alles glauben. Zunächst steht das Wiedersehen unter keinem günstigen Stern; Ines hat einen vollen Terminkalender, der Vater steht befangen lächelnd in der Gegend herum, während die Tochter Geschäftspartner bei Laune zu halten versucht. Sein Gastgeschenk, eine Käsereibe, stösst auf wenig Begeisterung, die Blickwechsel werden immer giftiger, die Wortwechsel immer gereizter; und irgendwann fällt eben der Satz übers Menschsein.

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Kurz darauf scheint der Bruch endgültig: ­Winfried verabschiedet sich überhastet, selbst das gemeinsame Auf-den-Aufzug-Warten will den beiden nicht so recht gelingen. Als Ines allerdings ein paar Szenen später mit zwei Freundinnen an einem Bartresen steht, gesellt sich ein absonderlicher Typ zu ihnen: Winfried hat eine langhaarige Zottelperücke aufgesetzt, sich falsche Zähne in den Mund geklemmt, stellt sich als ein Freelance-Unternehmensberater mit eher unklarem Betätigungsfeld und mit einem neuen Namen vor – Toni Erdmann.

Der Film gibt sich nicht allzu grosse Mühe zu erklären, warum Winfried Conradi, der freilich von Anfang an als Freund harmloser Scherze und insbesondere kreativ kombinierter Faschingsverkleidungsutensilien eingeführt wird, genau auf die Idee kommt, Toni Erdmann zu werden. Tatsächlich ist das eine grosse Stärke von Maren Ades dritter Regiearbeit: solche mutigen Setzungen, ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeiten, auch ohne Absicherung durch irgendwelche Plotmanöver. Winfried ist jetzt einfach Toni, damit haben wir Zuschauer uns ebenso abzufinden wie die nach einem ersten Schreck cool reagierende Ines.

In der Folge ist jedenfalls in der Welt des Bukarester Raubtierkapitalismus nichts und niemand sicher vor Toni Erdmann. Wild drauflos radebrechend schüttelt er jedem die Hand, der nicht bei drei auf dem Baum ist, stürmt die Empfänge der Industriekapitäne, hängt mit deren Frauen und Geliebten in Diskotheken ab; einmal wechselt er mir nichts, dir nichts den fiktiven Beruf, erklärt sich selbst zum deutschen Botschafter und seine Tochter zu seiner Assistentin. Woraufhin beide auf einer gemütlichen rumänischen Familienfeier landen und Eier mit Ölfarben bemalen.

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Die grosse Toni-Erdmann-Show, nach der sich das anhören mag, ist der Film freilich gerade nicht; seine Dynamik, auch seinen eigenartigen, im besten Sinn unökonomischen Rhythmus gewinnt er nicht aus den Streichen des drolligen Vaters, sondern aus dem Spannungsverhältnis, das die Streiche zwischen Vater und Tochter etablieren. Tatsächlich gibt es da eine permanente Verschiebung und Neuperspektivierung – auf beiden Seiten. Winfrieds / Tonis Schabernack kippt immer wieder unvermittelt vom Liebevoll-Scherzhaften ins Obsessiv-Krankhafte; insbesondere wenn er immer wieder kompulsiv die falschen Zähne anlegt, hat das etwas von einer pathologischen Fixierung. Und Ines’ Rolle beschränkt sich bei weitem nicht darauf, für die Auftritte ihres Vaters wahlweise die Zielscheibe oder das genervte Publikum darzustellen. Sie geht freilich auch nicht durchweg auf Konfrontationskurs, oft nimmt sie die zunehmend überdrehten Streiche eher als eine Einladung zum Spiel. Und zumindest einmal erhöht sie selbst den Einsatz, auf denkbar spektakuläre Art.

Auf dieser Ebene und vielleicht tatsächlich vor allem anderen ist Toni Erdmann Schauspielerkino – und zwar wirklich, da haben die Cannes-Hymnen nicht übertrieben, ziemlich grossartiges. Genauer gesagt: grosses dialogisches Schauspielerkino ist das, wobei man nie so recht sagen kann, ob man jetzt ­einem Schauspielerduell oder einem Schauspielerduett zusieht. Mehr noch als der in seiner Clownrolle voll aufgehende Peter Simonischek begeistert dabei San­dra Hüller, die ihre Rolle in jeder Szene ein wenig anders anlegt, als würde sie ihre Figur selbst erst im Lauf des Films kennenlernen. Allein wie sie immer wieder ein körperliches Unbehagen artikuliert, das mal mit der Umgebung zu tun hat, in die sie gepresst wird, mal auch sehr viel direkter mit ihrer Kleidung, in die sie sich selbst pressen muss …

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So weit ist das, wie gesagt, tatsächlich genau so wunderbar, filigran und beschwingt, wie es sich aus der Ferne, für die Nicht-Cannes-Besucher, in den begeisterten Kritiken angehört hat. Ade hat nicht nur zwei gut aufgelegte Darsteller zur Verfügung, sondern findet für deren Wechselspiele ausserdem eine unaufdringlich offene Form: Die einzelnen Szenen entfalten sich stets gemäss ihrer eigenen Dynamik – in oft ausnehmend langen Einstellungen, die aber nie auch nur von Ferne unter Formalismusverdacht kommen – und werden nie einem grossen Ganzen untergeordnet.

Allerdings: Folgt daraus schon, dass es ein solches grosses Ganzes gar nicht gibt? Bei aller Bewunderung für einzelne Szenen, Blick- und Wortwechsel, schauspielerische Volten konnte ich es doch nicht lassen, mich gelegentlich zu fragen, worauf das alles hinausläuft. Oder anders gesagt: Wenn man davon ausgeht (was man vielleicht nicht muss), dass der Film von etwas erzählt, das über das blosse Wechselspiel von Vater und Tochter hinausgeht – was wäre das dann?

Eine mögliche Antwort: Es geht nicht nur um die Differenz zwischen Vater und Tochter, sondern auch um die zwischen Rumänien und Deutschland. Zwar spielt fast der gesamte Film in Bukarest, aber ganz am Anfang und dann wieder am Ende geht es in die rheinländische Heimat der Conradis. Wo in gemütlichen, üppig grünenden Gartenlauben nichts zu sehen ist von den harschen sozialen Abgrenzungen, die der Film in den Bukarest-Szenen mit einer manchmal etwas allzu ausgestellten Beiläufigkeit ins Bild setzt; besonders sprechend ist ein Blick aus dem Hotelfenster, der aus der Vogelperspektive offenbart, wie ein Zaun das glänzende Geschäfts-Bukarest vom abgehängten Rest fernhält.

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Dazu passt, dass die Unternehmensberater und sonstigen Casinokapitalisten, die um Ines herumschwirren, allesamt mit grobem Pinsel gezeichnet werden und im Gegensatz zu den beiden Hauptfiguren blosse Funktionen ihres Milieus bleiben. Wenn dann der freundlich derangierte Toni Erdmann auf diese von sich selbst (und auch, wie eine wiederum durchaus komische Szene zeigt: von der vermeintlich normalen Sexualität) entfremdete Welt losgelassen wird, ist das ein therapeutisches Projekt: Es soll nicht nur die Tochter mit dem Vater, sondern auch die kapitalistische Moderne mit sich selbst versöhnt werden. Dabei scheint bisweilen die Sehnsucht nach einer ursprünglichen, bodenständigen, antimodernen, durchaus auch dezidiert deutschen Gemütlichkeit durch, die man gerade deshalb problematisch finden kann, weil der Film sie nie an die Oberfläche durchbrechen lässt, nie offen artikuliert, sondern in Ambivalenzen stillstellt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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