Filmbulletin Print Logo
1

Vor lauter Bäumen

Text: Wolfgang Nierlin / 30. Sep. 2017

Die Stimmung ist ausgelassen und unbeschwert, wenn die beiden Freunde zusammen «abhängen», ein bisschen Kiffen, zu viel Alkohol trinken und mehr schüchtern als mutig den Mädchen hinterherschauen. Noch ist es lustig, sich auszumalen, wie man sich durch Simulation und falsche Angaben der Wehrdienstpflicht entziehen könnte. Doch anderntags, unter den misstrauisch forschenden Blicken des Militärpsychologen, hat Manuel Halters (Rafael Luca Oliveira) Geschichte vom regelmässigen Kokainkonsum, mit der er auf Untauglichkeit spekuliert, nur scheinbar Erfolg. Denn kurz darauf attestiert ihm die Musterungskommission entgegen dem Gutachten volle Tauglichkeit. Und schon in einer der nächsten Szenen steht Manuel zusammen mit anderen jungen Männern auf dem Exerzierplatz, ausgesetzt einem stumpfsinnigen Drill.

In wenigen prägnanten Strichen und mit verstecktem Witz entfaltet der junge Luzerner Filmemacher Pablo Callisaya (Jahrgang 1989) in seinem Spielfilmdebüt Vor lauter Bäumen die Unsicherheit eines jungen Mannes im Geflecht der Möglichkeiten. Zwischen individueller Orientierungslosigkeit, unbestimmten Erwartungen und gesellschaftlichen Festlegungen wächst kontinuierlich der Druck, dem sich Manuel unvorbereitet ausgesetzt sieht. Sein gut situierter Vater drängt das Einzelkind, sich aus finanziellen Gründen als Offiziersanwärter zu verpflichten. Seine Freundin Fabienne, der eine daraus resultierende längerfristige Wochenendbeziehung zu wenig ist, macht daraufhin Schluss. Auch wenn das für Manuel zunächst ein Schock ist, spürt und sieht man doch auch, dass es ihm an Reife für eine tiefere Beziehung mangelt. Vielmehr scheint er in seinen materiellen Wünschen und sexuellen Bedürfnissen umstellt von gesellschaftlichen Vorgaben, auf die er eher unbewusst und wenig reflektiert reagiert.

Manu bett neu

Manuel hat die Selbstverständlichkeit dieser Konsumwünsche internalisiert, ohne sich zu ihnen in ein kritisches Verhältnis zu setzen. Orientierungslos driftet er zwischen Fremdbestimmung und elterlicher Abhängigkeit und weiss auf hilflose Art wenig von sich selbst. Diese Blindheit gegenüber dem eigenen Leben verleiht der Figur tragische Züge. Pablo Callisaya spitzt dieses negative Selbstverhältnis seines Protagonisten noch zu, indem er ihn in einen Strudel des Scheiterns versetzt. Dessen verhängnisvoller Sog, durch Ellipsen erzählerisch verdichtet, erfasst nacheinander Manuels lust- und planlos begonnenes Studium, seine Wohngemeinschaft mit seinem besten Freund Severin (Severin Gmünder), schließlich auch noch sein gutbürgerliches Elternhaus, das irgendwann als Zufluchts- oder Rückzugsort ausfällt.

Doch trotz dieser Abwärtsspirale, in der alles Suchen nurmehr ein Reagieren ist, entlässt Callisaya den von der eigenen Biografie inspirierten Helden seines unabhängig produzierten Coming-of-Age-Dramas – und mit ihm den Zuschauer – nicht ohne Hoffnung. Zwar weiß dieser am Ende des intuitiv in Schwarzweiß gedrehten sozialrealistischen Generationenportraits – Manuel ist ein Vertreter der sogenannten Generation Y – immer noch nicht wohin, aber er bricht zumindest auf. Begleitet wird dieser Gang ins Ungewisse von dem Song «My Dear», gesungen von der Züricher Indiefolk-Band Josh: «You can turn your back an go, right now.»

Weitere Empfehlungen

Kino

04. Mär. 2009

La forteresse

Im kleinen Städtchen Vallorbe im Waadtländer Jura steht das Empfangs- und Verfahrenszentrum für Asylsuchende. Es ist der Ort, an dem über die Zukunft Hunderter von Flüchtlingen bestimmt wird. La forteresse schafft einen exklusiven Einblick in diese «Festung», die auch als Metapher für die Schweiz gelesen werden kann, nähert sich einigen Insassen auf Augenhöhe, beobachtet andere nur aus der Ferne.

Kino

27. Juli 2011

Der Sandmann

Sorgfältig ordnet ein adrett gekleideter Mann mit klassischem, rotem Halstuch in einer Zürcher Philatelie seltene Briefmarken. Eine märchenhafte Melodie erklingt, eine liebliche Frauenstimme singt. Die Kamera schwenkt auf das Album voller Raritäten und fokussiert ein Häufchen kleiner brauner Körner: Sand. Der Mann verliert Sand.

Kino

02. Mär. 2012

The Deep Blue Sea

Obwohl die filmische Zeit mit ihren Möglichkeiten zu Dehnung, Raffung und Aufbruch der Chronologie viel eher der erinnerten Zeit als unserem Realitätsbegriff entspricht, gaukeln uns Historienfilme gerne eine kontinuierliche Erzählung vor. Der britische Regisseur Terence Davies hingegen lässt in seinen autobiographischen Werken das Liverpool der Nachkriegszeit bewusst in assoziativen Zyklen erinnerter Szenen auferstehen, die häufig nach musikalischen Gesichtspunkten strukturiert und angeordnet sind.