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Therese 01

Thérèse Desqueyroux

Bäume, bis zum Horizont nichts als Bäume. Die ausgedehnten Kiefernwälder des Départements Landes an der französischen Atlantikküste scheinen den Lebensweg der jungen Thérèse Desqueyroux vorherzubestimmen. Schon als sie noch mit ihrer besten Freundin Anne in schönster Mädchenblüte durch den Sommer des Jahres 1922 tollt, gilt als abgemacht, dass sie eines Tages deren Bruder Bernard heiraten wird.

Text: Julia Marx / 13. Mär. 2013

Bäume, bis zum Horizont nichts als Bäume. Die ausgedehnten Kiefernwälder des Départements Landes an der französischen Atlantikküste scheinen den Lebensweg der jungen Thérèse Desqueyroux vorherzubestimmen. Schon als sie noch mit ihrer besten Freundin Anne in schönster Mädchenblüte durch den Sommer des Jahres 1922 tollt, gilt als abgemacht, dass sie eines Tages deren Bruder Bernard heiraten wird. Denn dadurch werden die Waldgebiete ihrer jeweiligen Familien zu einem noch imposanteren Gebiet vereinigt. Als einige Jahre später die Eheschliessung bevorsteht, fragt Anne ihre Freundin, ob sie Angst davor habe. Nein, gibt die ihr Bescheid, sie erhoffe sich von der Ehe Rettung und Frieden und dass sie in ihrem Kopf Ordnung schaffe. Denn da hat es, wie sie ihrem Verlobten entschuldigend anvertraut hat, «zu viele Ideen» drin.

Was für Ideen mögen das sein, die hinter einer so abgeklärt wirkenden Stirn stecken? Claude Millers letzter Film vor seinem Krebstod im April 2012 wirft ständig solche Fragen auf: Was denkt sich diese Thérèse Desqueyroux eigentlich? Warum tut sie, was sie tut? Handelsübliche psychologische Überdeterminiertheit war nie das Ding des bei Robert Bresson, Marcel Carné, Jacques Demy und vor allem François Truffaut in die Lehre gegangenen Regisseurs. Man denke etwa an die Virtuosität, mit der er in Un secret mit Bildern und Worten die dem «Geheimnis» geschuldeten Verdrängungen immer wieder subtil durchschimmern lässt. Identitäten erweisen sich bei ihm gerne als fragiles Konstrukt, deren mühsamer Aufbau auch Thema seiner zahlreichen Filme über Heranwachsende ist.

Mit Thérèse Desqueyroux hat der gerne auf literarische Vorlagen zurückgreifende Miller eine (Anti-)Heldin ausgesucht, welcher schon immer der Ruf der Unergründlichkeit anhaftete. Anders als der auf wahren Begebenheiten beruhende Roman von François Mauriac mit seiner Rückblendenstruktur, der dem Leser schon früh die «Tat der Thérèse Desqueyroux» (so der deutsche Titel) zumindest andeutet, erzählt Miller mit Co-Drehbuchautorin Natalie Carter alle Geschehnisse hübsch eins nach dem anderen. Die jugendlich unbeschwerte Thérèse, die wir in Gestalt von Alba Gaïa Bellugi kennenlernen, weicht bald einer von Audrey Tautou gespielten Pragmatikerin, der es ebenso wenig in den Sinn käme, bei Waldbrandgefahr einen Zigarettenstummel liegen zu lassen wie eine Heirat abzulehnen, die doch finanziell und gesellschaftlich so opportun ist. Schon auf der Hochzeitsreise an einen mondänen Urlaubsort in Deutschland verrät Thérèses Miene, dass weder die Erfüllung der ehelichen Pflichten noch die Gesellschaft ihres Angetrauten ihr alles andere als angenehm sind. Ein Umstand, der ihr umso schmerzlicher bewusst werden muss, da Anne ihr treuherzig von dem Glück und Entzücken berichtet, das sie inzwischen in den Armen eines jungen Mannes gefunden hat. Dass Bernards standesbewusste Familie die Verbindung um jeden Preis unterbinden will – der junge Mann hat zwar viel Geld, aber nicht den richtigen Stallgeruch (man munkelt von einer jüdisch-portugiesischen Herkunft) – gibt ihr willkommene Gelegenheit, die Affäre zielstrebig zu hintertreiben.

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Anders als bei Georges Franju, der den Stoff exakt ein halbes Jahrhundert zuvor mit Emmanuelle Riva verfilmt hat, lässt uns Millers Thérèse kaum je per Voice-Over an ihren Gedanken teilhaben. Direkten Einblick in ihren Seelenzustand geben einige beunruhigende Szenen, die sich als ihre Phantasien herausstellen. Dagegen lässt sich aus Tautous Mienenspiel vor allem ablesen, dass sich immer weniger ablesen lässt: Thérèse versteinert sukzessive, weder ihr neugeborenes Baby noch ein ihr Waldimperium bedrohender Grossbrand können ihr Interesse wecken. Ungerührt bleibt sie sitzen, während alle bang die Rauchsäulen am Horizont beobachten, und ungerührt schaut sie zu, wie Bernard in dem Trubel eine Überdosis seiner Herztropfen erwischt. Das wirft ihn aufs Krankenlager und gibt ihr eine mörderische Idee ein.

Man beobachtet die allmähliche Vergiftung Bernards mit Beklommenheit, denn Miller widersteht der Versuchung, auf billige Weise Sympathien für seine Titelheldin zu erzeugen, indem er ihn zum Widerling stempelt. Verkörpert von Gilles Lellouche, lernen wir Bernard nicht als den dumpfen Grobian kennen, als den ihn Philippe Noiret in der Version von 1962 gegeben hat, sondern als einen etwas simpel gestrickten Mann, dessen inhärente Gutmütigkeit vom chauvinistischen Dünkel des katholischen Grossgrundbesitzers überlagert wird. Was für ein striktes Verhaltenskorsett diese Mentalität darstellt, zeigt sich in der Art, wie das familiäre Umfeld mit der Situation umgeht, als Thérèses Machenschaften auffliegen. Der Zwang, unter allen Umständen den Schein zu wahren, selbst wenn das Sein dabei auf der Strecke bleibt – ist in ihm die Wurzel allen Übels zu suchen, da er Thérèse einen legitimen Fluchtweg wie Scheidung verunmöglicht hat?

So zurückhaltend wie sein bewährter Kameramann Gérard de Battista es mit seinen gedämpften Farben im Visuellen ist, verhält sich Claude Miller zum restlosen Auffüllen der Leerstellen in einem vergifteten Leben. In vorderhand idyllischen Bildern die Brüche zu zeigen, interessiert ihn mehr, als sie (weg)zuerklären. Die Charakterzeichnung wird dadurch, das muss man zugeben, etwas spröde. Aber es macht uns dabei keiner vor, dass am Ende alles glatt zusammenpasst, wie Puzzlesteine eines unabwendbaren Schicksals.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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