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Above and Below

Gegensätzlichkeit zieht sich thematisch und filmisch durch Above and Below. Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm, der mit Direct Cinema nichts am Hut hat, sich einem puristischen Ansatz verweigert, in puncto Provokation vielleicht ansatzweise den Spuren des Cinéma vérité folgt, eigentlich aber nur eines tut: dokumentarisches Kino neu denken.

Text: Kim Schelbert / 19. Jan. 2016

Tropfen, durchs Wasser watende Schritte, Plätschern. Hin und wieder erhellt das Licht einer Taschenlampe das Dunkel. Unscharf zeichnen sich im Hintergrund Kanalwände ab. Lalo erzählt von einer unheimlichen Erscheinung, dem Geist eines Mädchens, der ihm an dieser Stelle im Tunnel begegnet sei. Es hatte hier mit seiner Familie gewohnt und kam in den Abwasserfluten um. Das Licht der Taschenlampe richtet sich aufs vorbeiziehende Wasser, der zuvor beschränkte Blick weitet sich in einer Totale. Unverhofft beginnt Lalo zu singen: «Halleluja.» Als befände er sich in einer Kathedrale des Untergrunds, erfüllt der Gesang das Kanalsystem, hallt von den Wänden, offenbart eine Schönheit im Unbehagen. Diese Art von Gegensätzlichkeit zieht sich thematisch und filmisch durch Above and Below. Ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm, der mit Direct Cinema nichts am Hut hat, sich einem puristischen Ansatz verweigert, in puncto Provokation vielleicht ansatzweise den Spuren des Cinéma vérité folgt, eigentlich aber nur eines tut: dokumentarisches Kino neu denken.

Der Schweizer Regisseur Nicolas Steiner verschreibt sich in Above and Below einer philanthropischen Weltanschauung, erzählt von Freude auf der Kehrseite des Lebens, Respekt vor dem vermeintlich Anderen und setzt dabei ein starkes Statement, was Kino im Allgemeinen und Dokumentarfilm im Speziellen können muss: Ton, Musik, Bildästhetik ausreizen, um Geschichten zu erzählen, die sich nach keinem Lehrbuch richten. Das treibt Steiner an. Im Kurzfilm Ich bin’s Helmut (2009) führte er die Gemachtheit des Spielfilms ad absurdum, liess Kulissen babuschkaartig vor den Augen des Zuschauers neu entstehen. In seinem ersten Dokumentarlangfilm [art:kampf-der-koniginnen:Kampf der Königinnen] (2012) setzte er Kakofonie, harte Schnitte, Unschärfe, extreme Zeitlupe ein und liess die geschickt montierten Storylines zu einer Welt verschmelzen. Was durch den HeimatfilmPlot unauffälliger gewirkt haben mag, wird im unschweizerischen Wildwestsetting von Above and Below umso evidenter, verleitet einen sogar, Verfremdungseffekte als amerikanische Einflussnahme zu verorten. Steiners Kinoverständnis hat sich in seinem Zweitling radikalisiert, übergeht Dokumentarfilmkonventionen. Weder die Anwendung von Fiction-Komponenten (Kranfahrten, Musik zur Untermalung) noch die Sichtbarmachung konstruierter filmischer Realität (Jump Cuts, Eingriffe in die Umgebung) sind für ihn ein Tabu.

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Drei verblüffende, sehr ungewöhnliche Handlungsräume waren ausschlaggebend, die Geschichten ihrer Bewohner zu erzählen: Lalo haust wie das Liebespaar Rick und Cindy «below» in den unterirdischen Flutkanälen von Las Vegas. Obwohl Drogen und Illegalität ihr Dasein bestimmen, sind sie kein zentrales Thema. Vielmehr handelt der Film vom unermüdlichen Lebenswillen und der Freude am Alltäglichen, das – überraschenderweise – sogar im Nichtalltäglichen zu finden ist. Rick und Cindys Zuhause wird regelmässig weggeschwemmt, jedes Mal beginnen sie von vorne, richten sich mit Gefundenem aus dem Sperrmüll neu ein. Ausgestossene, Leben am Rand der Gesellschaft. Diese Gemeinsamkeit teilen sie mit Dave. Er bewohnt einen verlassenen Militärbunker in der Einöde der Wüste Utahs, mit wenig Ressourcen, dafür umso mehr Tatendrang. Auf ihre Weise abgekapselt ist auch April, die in der Mars Society Desert Research Station ihr späteres Leben «above» im All trainiert.

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Steiner schafft es eindrücklich, zu allen Protagonisten Nähe aufzubauen, er wird im Off beinahe spürbar. Immer wieder stellt sich das Gefühl ein, da müsse ein verdammt guter Menschenkenner neben der Kamera stehen, so offen wird von Vergangenem, persönlichen Ängsten und Hoffnung erzählt. Intensiver als in [art:kampf-der-koniginnen:Kampf der Königinnen] gelingt es, zwischen inhaltlichen Aussagen und Bildwelten die Parallelen der verschiedenen Handlungsstränge herauszukristallisieren, sie audiovisuell zu verbinden, sei es auf der Soundebene, indem collageartig das Geräusch eines Rasierapparats ins Summen eines Marsmobils übergeht, Off-Sound aus anderen Spielräumen eingeblendet wird oder bildlich, wie Staubfegen in der Wüste und im Flutkanal aussehen kann. Der Ton und insbesondere die Musik werden beinahe zu einem sechsten Protagonisten, sind für die Stil- und Handlungsebene ausschlaggebend: Lalo singt, Rick spielt E-Gitarre, Dave Klarinette und Schlagzeug (wie Steiner selbst, was ihm zu einem kurzen Cameoauftritt verhilft). Die Musik konstruiert aus den vier Schauplätzen eine zusammenhängende Welt, stiftet Emotionen und funktioniert als Triebwerk.

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Der hohe Anspruch an Bild und Ton erinnert eher an Hollywood als an klassische Dokumentarfilme. Cinemascope sowie häufig eingesetzte geringe Schärfentiefe sorgen für ein Kinoerlebnis mit zeitgenössischer und attraktiver Bildästhetik. Above and Below übt keine Amerikakritik, wirkt nicht aufklärerisch, sondern zeigt mit detailreichen Aufnahmen fremde Landschaften, die man sonst vermutlich niemals zu Gesicht bekommen würde. Trotz der Offenheit der Protagonisten bleiben Fragen unbeantwortet, nicht allen Figuren kommt gleich viel Aufmerksamkeit zu, das kann unbefriedigend wirken. Das Ende, ein arrangiertes Feuerwerk bei Sonnenuntergang, hätte etwas weniger Kitsch vertragen. Für die Handlung wäre so viel Brimborium nicht nötig gewesen. Der Eingriff unterstreicht hingegen die Haltung eines eigenwilligen Dokumentarfilmers – solche Einstellungen braucht das Schweizer Filmschaffen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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