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Slow West

John Macleans Film ist kein tragischer Stimmungswestern, eher schon ein ironisch-kluger postmoderner und post-kolonialer Metawestern voller verspielter Episoden mit einer kreolischen Band mitten in der Prärie oder einem deutschen Schreiberling, der an einem Werk über den Genozid an den Ureinwohnern arbeitet.

Text: Michael Pfister / 07. Mär. 2016

Ein schottischer Adliger im Wilden Westen? Da mag man sich an A Man Called Horse (1970, Regie: Eliot Silverstein) erinnert fühlen, an Richard Harris, der als englischer Lord John Morgan von Lakota-Sioux gefangen genommen und wie ein Pferd misshandelt und erniedrigt wird, bis er sich im Kampf bewährt und Häuptlingswürden erlangt. Der amerikanische Westen als Männerschmiede und Abhärtungsprogramm für weichliche Europäer – das hat Tradition. Der schottische Indie-Rock-Musiker John Maclean will es in seinem Spielfilmerstling Slow West anders: Sein blaublütiges Jüngelchen Jay Cavendish lässt sich seine Zartheit durch nichts und niemanden austreiben. Vielmehr ist seine Weichheit gerade seine Härte, die all die abgebrühten Revolverhelden verblassen lässt. «Ein Greenhorn schleppt der Reinlichkeit wegen einen Waschschwamm von der Grösse eines Riesenkürbis und zehn Pfund Seife mit in die Prärie und steckt sich dazu einen Kompass bei, der schon am dritten oder vierten Tag nach allen möglichen Richtungen, aber nie mehr nach Norden zeigt», heisst es auf den ersten Seiten von Karl Mays «Winnetou I». So ein Greenhorn ist auch der vom siebzehnjährigen Kodi Smit-McPhee als mondsüchtiger tumber Tor der Liebe grandios gespielte Jay. Auch er hat einen Kompass im Gepäck – und den Reiseführer «Ho! For the West», der «Lonely Planet» von damals. Nur dass er nicht zum «Westmann» reift, schon gar nicht mit eiserner Faust und Repetiergewehr. Kein Old Shatterhand – ein Young Schmetterherz.

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Denn Jay ist seiner aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Angebeteten Rose auf den Fersen, die mit ihrem Vater aus Schottland flüchten musste, weil dieser versehentlich Jays Onkel erschlagen hatte. Dass er für Rose nichts weiter ist als «der kleine Bruder, den ich nie hatte», stört den hoffnungslos Verliebten ebenso wenig wie die zahllosen Gefahren, die im Wilden Westen lauern. Prompt gerät er in die Bredouille und wird vom ehemaligen Desperado Silas gerettet, der ihm für hundert Dollar seine Dienste als Reiseführer und chaperon, als Anstandswauwau also, anbietet. Silas handelt indes nicht aus schierer Menschenliebe – er weiss, dass Rose und ihr Vater steckbrieflich gesucht werden, und verspricht sich zusätzlich 2000 Dollar Kopfgeld. Freilich heften sich im kapitalistischen Amerika von 1870 rasch weitere Auftragskiller auf die Spur der Flüchtigen, sodass es zu einem blutigen Shootout kommen muss.

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Macleans Film ist kein tragischer Stimmungswestern, eher schon ein ironisch-kluger postmoderner und post-kolonialer Metawestern voller verspielter Episoden mit einer kreolischen Band mitten in der Prärie oder einem deutschen Schreiberling, der an einem Werk über den Genozid an den Ureinwohnern arbeitet. Was für ein wunderbares Bild, als Jay und Silas nach einer nächtlichen Überschwemmung ihre nassen Kleider an einer zwischen den beiden Pferden aufgespannten Wäscheleine trocknen!

Slow West ist ein bisschen blutig, ein bisschen surreal, ein bisschen sozialkritisch – kurz vor Schluss sehen wir eine Diashow mit allen Toten des Films. Vor allem aber ist Slow West eine Variation auf John Fords The Searchers: Hier wie dort suchen ein freundlicher Jüngling und ein griesgrämiger älterer Mann eine im Wilden Westen verschollene junge Frau, wobei der Alte eigentlich im Sinn hat, die Frau, sobald sie gefunden ist, zu töten. Zwar ist Rose nicht wie Fords Debbie von Indianern entführt worden, aber sie hat in ihrem «little house on the prairie» auch einen indianischen Verehrer, der für sie kämpft. Nur ist Silas kein brutaler Zyniker wie John Waynes Ethan Edwards. Jay nennt ihn «a brute», einen Rohling, aber nur, um sogleich mit ihm bildungsbürgerlich Zitate aus den Psalmen oder den Werken des schottischen Dichters Thomas Hood auszutauschen oder über Darwins Evolutionslehre zu parlieren: «Leben ist mehr als Überleben», posaunt der radikale Romantiker, und man ahnt schon, dass er vor der Selektion keine Gnade finden wird.

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Da ist es auch nicht so schlimm, dass Michael Fassbender als Silas nicht der geborene Westernheld ist. Statt einer verlebten Haudegenvisage eine sanfte Stimme, die Off-Stimme eines unzuverlässigen oder zumindest ambivalenten Erzählers nämlich, der sich raubeiniger gibt, als er ist. Die Schlusspointe ist so witzig und scharfsinnig wie der ganze Film: Wie in The Searchers blicken wir aus dem Häuschen durch den Türrahmen in die Wildnis (wenn auch nicht Monument Valley, sondern neuseeländische Schneeberge und ein verbranntes Kornfeld), doch Fassbender torkelt nicht als einsamer Wolf in die Landschaft hinaus wie weiland John Wayne, sondern nagelt das Hufeisen über der Innenseite der Tür wieder fest. Er findet das Familienglück mit Rose und seine innere Mitte, denn in Tat und Wahrheit beruht die Zivilisation nicht, wie bei Ford und vielen anderen Klassikern, auf dem Selbstopfer des ehrbaren, aber ewig heimatlosen Gewalttäters. Vielmehr lebt dieser ambivalente Rohling in uns allen weiter. Für unseren Frieden gestorben ist der bedingungslos Liebende, das Schmetterherz tief in uns drin.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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