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Victoria 08

Victoria

Die Hauptrolle in Victoria spielt die Kamera. Sie performt variationsreich über die 136 Minuten des Films, der aus einer einzigen langen Einstellung besteht. Erst wählt sie ihre Protagonistin aus einer tanzenden Menge eines Tanzclubs aus und lässt sie bis zur letzten Minute nicht mehr aus den Augen, rennt mit, tanzt mit, wird hektisch und aufgeregt, wenn mit Waffen hantiert wird, und taumelt schliesslich erst in Freude, dann erschüttert, verängstigt und fassungslos aus dem ganzen Schlamassel heraus.

Text: Tereza Fischer / 17. Juni 2015

Die Hauptrolle in diesem Film spielt die Kamera. Sie performt variationsreich über die 136 Minuten des Films, der aus einer einzigen langen Einstellung besteht. Erst wählt sie ihre Protagonistin aus einer tanzenden Menge eines Tanzclubs aus und lässt sie bis zur letzten Minute nicht mehr aus den Augen, rennt mit, tanzt mit, wird hektisch und aufgeregt, wenn mit Waffen hantiert wird, und taumelt schliesslich erst in Freude, dann erschüttert, verängstigt und fassungslos aus dem ganzen Schlamassel heraus.

Das Schlamassel ist ein Banküberfall, in den die junge Spanierin Victoria eines Nachts in Berlin gerät. Gegen die frühen Morgenstunden mag sie nicht mehr allein tanzen, zudem ist sie beim Barmann abgeblitzt. Als sie beim Ausgang auf eine Viererbande mit den phantasievollen Namen Sonne, Boxer, Blinker und Fuss trifft, lässt sie sich auf ihr Hofieren ein und zieht mit ihnen um den Block. Sonne und Victoria beginnen einen Flirt, der jedoch durch ein dringend zu erledigendes krummes Geschäft unterbrochen wird. Sonne hat seinem Kumpel Boxer zu helfen versprochen, da muss er mit. Und Victoria, ohnehin gelangweilt und nun romantisiert, geht nochmals mit. Boxer wird bedroht, denn er schuldet Geld, das er sich nun in einem ziemlich schlecht geplanten Banküberfall holt. Einiges geht schief, und die vorschnelle Siegesfeier über den gelungenen Coup wandelt sich in eine Katastrophe. Victoria aber geht als Siegerin aus dem Ganzen hervor. Nomen est omen.

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Victoria weiss offensichtlich, Gelegenheiten zu nutzen. Auch wenn man (frau) sich ob der Naivität einer jungen Spanierin wundert, die sich auf vier nicht gerade verlässlich wirkende Typen einlässt, merkt man schnell, dass Victoria auf der Suche ist. Auf der Suche nach Abenteuern. «Are you stealing?», fragt sie überrascht, als Sonne den schlafenden Kioskverkäufer um ein paar Bier erleichtert. Im nächsten Augenblick hat sie das Knabberzeug mitgehen lassen. In den folgenden teilweise chaotischen Momenten behält Victoria meist die Übersicht und die Ruhe, auch wenn die «echten Berliner Männer» in Panik geraten.

Sebastian Schipper wollte einen Banküberfall unmittelbar, direkt und zum Mitfühlen inszenieren und hat sich für Echtzeit entschieden, für eine einzige Einstellung. Das fiktionale Geschehen dauert also genau so lang wie die Filmlaufzeit. Gedreht wurde in diesen zweieinviertel Stunden an 22 verschiedenen Drehorten. Dafür haben die Schauspieler und die Crew monatelang geprobt, damit es dann beim dritten Anlauf klappen konnte. Es ist eine aussergewöhnliche Konzentrations- und Improvisationsleistung, die Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hier gezeigt hat. Zu Recht wird er im Abspann als Erster genannt.

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Den ganzen Film als Plansequenz zu drehen, war ein mutiges Unterfangen, wenn auch nicht das erste seiner Art. Schon Alfred Hitchcock hat 1948 in Rope Echtzeit simuliert. Wegen der beschränkt langen Filmrollen musste er aber auf Tricks zurückgreifen, um die Unterbrechungen zu kaschieren. Zuletzt ist Alejandro González Iñárritus Birdman als eine (scheinbar) einzige lange Einstellung zu sehen gewesen, ebenfalls unter Anwendung einiger Kniffe. Mike Figgis setzte in Timecode gleich vier gleichzeitige und teilweise zusammenlaufende Handlungen als Split Screen zusammen, neunzig Minuten lang ohne Schnitt.

Filme setzen Tricks ein, um Realitäten entstehen zu lassen. So funktioniert der Film, er ist auf seine Wirkung hin konstruiert. Wenn also Kunstgriffe im Spiel sind, um Kontinuität vorzugaukeln, funktioniert es, solange sie unsichtbar sind und die Zuschauer glauben, «live» dabei zu sein. Ob mit oder ohne versteckte Schnitte, die Wirkung einer zeitlich kontinuierlich sich entwickelnden Handlung, deren Tempowechsel nachvollziehbar werden, hat eine eigene Sogwirkung. Dazu gehören auch langsamere Momente, etwa wenn sinnlose After-Hours-Gespräche unter Fremden dahinplätschern. Aber ganz besonders gut funktioniert das evozierte Zeitgefühl, wenn man mit Victoria im Fluchtauto darauf wartet, dass die Hobbyräuber jeden Moment aus der Bank stürmen, der Wagen aber nicht mehr anspringt. Eine sehr ähnliche Szene hat Joseph H. Lewis 1949 in Gun Crazy auch als Plansequenz inszeniert und damit die Spannung beim Warten vor der Bank gesteigert. Ungewöhnlich für die damalige Zeit.

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Auch Schipper hat Strategien anwenden müssen, um die Geschichte konsequent aus Victorias Perspektive erzählen zu können. Obwohl die Protagonistin vor der Bank im Wagen bleibt, haben wir bereits die Aufregung erleben können, die sich wohl drinnen abspielt. Als die “Bande” die Waffen vom Ganoven Andi erhält, probt sie den Überfall, worauf Grøvlen mit seiner Steadicam mit entsprechender Hektik reagiert.

An manchen Stellen wird wegen der wild bewegten Kamera nicht nur die Magenstärke von kinetisch empfindlichen Zuschauern getestet, sondern auch ihr Vertrauen in die Plausibilität der Geschichte. Wie Victoria muss man den Glauben an die Figuren aufbringen, die von sich behaupten, sie seien nicht «bad guys, but doing bad things». Aber jemand, der wie Sonne Kakao statt Kaffee trinkt, muss wohl ein lieber Kerl sein.

Insgesamt beeindruckt das Experiment, vor allem mit seiner Durchführung, die allen Beteiligten während der 136 Minuten enorme Übersicht, Durchhaltevermögen und Konzentration abverlangte. Die Erschöpfung, die sich bei der Crew am Ende des Drehs eingestellt haben muss, kam nach dem Film auch bei mir auf. Schliesslich waren wir unmittelbar dabei, beim Überfall.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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