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Julieta 25

Julieta

Laut eigenen Aussagen hat sich Pedro Almodóvar für seinen neusten Film Julieta ein Gebot der Mässigung auferlegt. Im Vergleich zu einigen seiner früheren, emotional exzessiven, aber auch verspielt ironischen Melodramen handelt es sich hier tatsächlich um ein eher geradlinig-ernstes Drama. Dennoch wartet der spanische Regisseur vom ersten Bild an wieder mit inszenatorischer und erzählerischer Opulenz auf.

Text: Susie Trenka / 11. Juni 2016

Laut eigenen Aussagen hat sich Pedro Almodóvar für seinen neusten Film Julieta ein Gebot der Mässigung auferlegt. Im Vergleich zu einigen seiner früheren, emotional exzessiven, aber auch verspielt ironischen Melodramen handelt es sich hier tatsächlich um ein eher geradlinig-ernstes Drama. Dennoch wartet der spanische Regisseur vom ersten Bild an wieder mit inszenatorischer und erzählerischer Opulenz auf.

Julieta beginnt mit einem wallenden, knallroten Stoff, dessen rhythmische Bewegung sich als Atmung der Hauptfigur herausstellt. Julieta wickelt eine kleine Tonfigur eines sitzenden nackten Mannes ein. Mit ihrem Freund Lorenzo packt sie für den geplanten Umzug nach Portugal. Wenig später begegnet Julieta zufällig Bea, der engsten Jugendfreundin ihrer Tochter Antía, worauf sie ihre Zukunftspläne schlagartig begräbt. Ohne weitere Erklärung lässt sie Lorenzo sitzen, zieht in ihr früheres Wohnhaus und nimmt uns mit auf eine Reise in die Vergangenheit.

In der Altbauwohnung, wo die Erinnerung an Vergangenes geradezu greifbar ist, erzählt Julieta ihre Geschichte in Form eines Briefs an ihre Tochter, die sich vor zwölf Jahren kommentar- und spurlos aus dem Leben ihrer Mutter verabschiedet hat. Das dazugehörige Voice-over leitet die Rückblende ein, die mit der Untersicht eines fahrenden Zuges zu spannungsvoller Musik beginnt: Dreissig Jahre früher, die 25-jährige Julieta reist allein im Zug, wo sie den Fischer Xoan kennenlernt, während sich ein älterer Mann – dem Julieta kurz zuvor aus dem Weg ­gegangen ist – vor ebendiesen Zug wirft. In der Folge werden die Zeitsprünge in der Narration kaum markiert, fliessend gehen die einzelnen Abschnitte ineinander über: von Antías Zeugung in jener schicksalhaften Nacht im Zug bis zu ihrem Verschwinden im Alter von 18 Jahren, gefolgt von Julietas verzweifelter Suche und schliesslich ihrer Begegnung mit Lorenzo, die Hoffnung auf einen Neuanfang bringt.

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Liebe, Erotik und Betrug, Krankheit und Tod, Verlust und Trauer, Erinnerung und Vergessen, Zufälle und tragische Unfälle – kaum etwas an grossen Gefühlen, Lebensfragen und dramatischen Wendungen wird hier ausgespart. Dabei versinnbildlicht das Meer in Galizien, wo Julieta jahrelang glücklich mit Xoan und Antía lebt, die Dichotomie von Selbstbestimmung und Kontrollverlust: Freiheitsversprechen auf der einen Seite, tödliche Naturgewalt auf der anderen.

Auch wenn Almodóvar diesmal auf direkte Filmzitate verzichtet, hat er offensichtlich im Fundus der Filmgeschichte gewühlt, ebenso wie in seinem eigenen Œuvre, aus dem viele bereits bekannte Motive wieder auftauchen. Xoans indiskrete Haushälterin Marian ist herrlich überzeichnet in Szene gesetzt und erinnert an die Figur der Mrs. Denvers aus Hitchcocks Rebecca, während die Bildhauerin Ava – Schöpferin phallischer Miniskulpturen – als südländisch-exotische Schönheit auffällig dem Hollywoodstar Ava Gardner gleicht. Intrigantin und Verführerin: Die unheilvollen Rollen dieser beiden Figuren werden erst in späten Flashbacks, innerhalb der übergeordneten Rückblende, enthüllt. Ebenso schält sich das Schuldgefühl der Frauen – Julieta, Ava, Antía – erst allmählich als verhängnisvolle, handlungstreibende Kraft heraus. Dass Julieta durch und durch ein Frauenfilm ist, erstaunt kaum. Die männlichen Figuren erscheinen beinahe auf den Status von Requisiten reduziert – wie Avas Figürchen. Ihre Aufgabe liegt vor allem im Sex, der als Ursprung von Leben sowie Ursache von Unheil hier freilich alles andere als Nebensache ist.

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Das Erbe der klassischen Melodramen aus den fünfziger Jahren ist auch auf formaler Ebene unübersehbar. Almodóvar erzählt in sinnlichen und symbolträchtigen Bildern, mit bis ins kleinste Detail durchdachter Ausstattung, wobei die Primärfarben rot und blau eine wichtige Rolle spielen. Das leuchtende Rot mag für Liebe, Leidenschaft und das Leben stehen, das klare Blau für Leere, Absenz und Tod, doch ganz eindeutig lassen sich solche Zuordnungen nicht festmachen. Die üppige Instrumentalmusik von Almodóvars Hauskomponist Alberto Iglesias erinnert ebenfalls an das Hollywoodkino der fünfziger Jahre. Dabei fungiert die Musik nicht als unauffällige Untermalung, sondern als spürbare Präsenz, deren emotionalisierende Wirkung genüsslich zur Schau gestellt wird. Thrillerartige Klänge in zentralen Szenen betonen zudem das Detektivische der Geschichte.

Julieta basiert auf drei Kurzgeschichten der kanadischen Autorin Alice Munro aus der Sammlung «Runaway» (Deutsch «Tricks»), die zwar die Hauptfigur Juliet gemeinsam haben, ansonsten aber voneinander unabhängige Erzählungen bilden. Für seine dichte Frauen- und Familiengeschichte hat Almodóvar diese Vorlagen miteinander verwoben und reichlich mit eigenen Zugaben versehen. Entgegen seinem ursprünglichen Plan, den Film in den USA auf Englisch zu drehen, entschied sich der Regisseur doch wieder für Spanien als Schauplatz. Dies erlaubt ihm auch die kulturell starken Familienbande zwischen den Generationen zu betonen, die hier in ihrer schmerzhaftesten Form zum Tragen kommen. Wie es Julieta selbst ausdrückt, bestimmt Antías Abwesenheit ihr ganzes Leben und droht es zu zerstören. Allerdings ist die Tochter auch in ihrer anfänglichen Präsenz eine eher konturlose Figur. So bildet Antía quasi als Leerstelle in doppeltem Sinn – zunächst als unbeschriebenes Blatt, dann als physische Absenz – den Angelpunkt der Handlung. Dass sie dadurch dem Publikum ähnlich unfassbar erscheint wie der Mutter, mag beabsichtigt sein. Allerdings bleibt damit auch ihr Verschwinden trotz der Puzzleteile, die Ava und Bea schliesslich zur Aufklärung beisteuern, ein Stück weit unerklärlich. Entsprechend wirkt das Ende nicht nur etwas plump, sondern auch unbefriedigend.

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Trotz Almodóvars erklärter Absicht, für einmal ein «gemässigtes», humor- und ironiefreies Drama zu schaffen, scheint der Film nicht auf realistische Wirkung angelegt. Dafür sind die motivischen Parallelen zu aufdringlich konstruiert, manche Dialoge zu bedeutungsschwanger philosophisch. Die mangelnde Plausibilität inhaltlicher Details übersieht man gern. Doch die Kombination aus Ernsthaftigkeit und Exzess schmälert zuweilen die emotionale Kraft des Films. Almodóvars Frauenensemble agiert ausdrucksstark, und auch der Einsatz von zwei Schauspielerinnen für die jüngere und ältere Julieta funktioniert. Und dennoch mag man mit den schicksalsgeplagten Figuren nicht immer richtig mitleiden. Stattdessen entfalten der überaus konstruierte Plot, die wunderbar durchkomponierten Bilder und die dramatische Musik ihre Wirkung vor allem auf ästhetischer Ebene. Und auf dieser Ebene funktioniert der Film hervorragend. Als dezidiert künstliche Komposition, als durch und durch filmisches Werk ist Julieta ein Kinogenuss.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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