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The Lost City of Z

Die Geschichte des echten Abenteurers Percy Fawcett, der nicht anders kann, als immer wieder zu einer verlorenen Stadt im Amazonas zu reisen und nach ihr zu suchen, ist auch die Rückkehr zum verlorenen klassischen Kino.

Text: Philipp Stadelmaier / 28. Mär. 2017

Percy Fawcett, Offizier seiner Majestät der britischen Krone, wird auf eine Expedition nach Südamerika entsandt, um ein unerforschtes Gebiet zu kartografieren, wozu er bis zur Quelle eines Nebenflusses des Amazonas reisen soll. Der Mann lässt seinen kleinen Sohn und die hochschwangere Frau in England zurück und begibt sich gemeinsam mit seinem Assistenten Costin in den brasilianischen Dschungel. Mit wenigen Mitstreitern fahren sie auf einem brüchigen Kanu den Fluss hinauf, werden vom Hunger gequält und von Indianern beschossen. Schliesslich gelangen sie zur Quelle des Flusses und führen ihre letzte Vermessung durch. Aber kurz vor dem Ablegen entdeckt Fawcett Keramik, Götzenbilder, Relikte – Hinweise auf die Ruine einer verborgenen Stadt im Dschungel.

Fawcett reist nach England zurück. Aber das Einzige, woran er denken kann, ist die Rückkehr an diesen Fleck im Amazonasgebiet, an dem sich die Zeugnisse einer uralten, unbekannten Zivilisation befinden. Also organisiert Fawcett eine zweite Expedition. Nach etlichen Abenteuern steht Fawcett erneut vor den Ruinen der verborgenen Stadt. Doch kurz vor dem Ziel muss Fawcett abbrechen und erneut nach Europa zurückkehren.

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An einen weiteren Versuch ist lange nicht zu denken. Der Erste Weltkrieg kommt dazwischen. Noch auf den blutigen Schlachtfeldern Frankreichs wird Fawcett eine Zeichnung der Urwaldszenerie mit sich herumtragen, ein Bild des verwunschenen Ortes, den er Z genannt hat. Z wie das ultimative Ende, der ultimative Zweck, wie das, worauf man sich immer weiter zubewegen muss. Jahre nach dem Krieg ist es sein Sohn, der ihn zu einer weiteren Expedition überredet. Es wird die letzte sein. Sie werden nicht von ihr zurückkehren.

James Grays The Lost City of Z beruht auf dem gleichnamigen Buch von David Grann über das Leben des echten Percy Fawcett, der 1925 auf seiner letzten Expedition ins Amazonasgebiet verschollen ging. Es gibt nicht genug Worte, um zu beschreiben, wie schön Grays Film ist; und es lässt sich kaum aufzählen, wieviele Filme in The Lost City of Z enthalten sind, zu wievielen Filmen dieser Film, der über eine endlose Rückkehr an einen utopischen Ort erzählt, zurückfinden lässt. Den Ball zu Beginn filmt Gray wie Visconti in Il Gattopardo, die Reise auf dem Fluss, inklusive surrealer Opernspektakel im Urwald, wie Coppola in Apocalypse Now oder Werner Herzog in Fitzcarraldo. Die Begegnung mit den Indianern: Raoul Walshs Distant Drums, Howard Hawks’ The Big Sky. Die Bahnfahrt vor der letzten Reise: I vitelloni von Fellini. Die Suche nach dem paradiesischen Ort, von dem man nie zurückkehrt: Shangri La von Frank Capra.

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Grays Film, gedreht auf Zelluloid, ist eine permanente Rückkehr zum Kino; The Lost City of Z meint auch «The Lost City of C» (wie «cinema») – die Rückkehr zur Stätte des alten, klassischen, verlorenen Kinos. Gray weiss, dass dieses El Dorado des Kinos wie jenes im Dschungel verloren, dass keine wirkliche Rückkehr möglich ist; dass die Expedition ohne Erfolg bleiben oder dieser Erfolg mit dem Verschwinden, dem Tod zusammenfallen muss. Ganz anders als in La La Land, der Hommage ans klassische Hollywoodmusical von Damien Chazelle – einer Apologie der realisierten Träume vom künstlerischen Erfolg, den die Figuren in Chazelles virtuos inszeniertem, von perfektem Gelingen strotzendem Film haben; einer Apologie auch des unerschütterlichen Glaubens, nahtlos an klassische Vorfahren wie Vincente Minnelli anknüpfen zu können.

Grays Film geht verschlungenere Pfade. Besonders nah steht er Dersu Uzala von Akira Kurosawa, in dem es nicht um einen verlorenen Ort, aber auch um Vermessung geht. Auch Kurosawas Film spielt im Wald: in der russischen Taiga. Die Geschichte der Freundschaft zwischen einem russischen Kartografen und Dersu, dem Kirgisen, der in den Wäldern lebt, erzählt, wie Serge Daney gezeigt hat, von zwei verschiedenen Konzepten, ein Territorium zu vermessen: Der Kartograf denkt in geometrischen Kategorien, in geraden Linien; Dersu hingegen in Kurven, in Umwegen. In The Lost City of Z ist es gerade im Moment der Vollendung der kartografischen Mission und der Vollendung der Karte, dass Fawcett die Spuren der verborgenen Stadt entdeckt. So beginnt hier an den Rändern der Geometrie die Verzauberung durch die Kurve, die nicht mehr in die Kategorien des messbaren Raums und der messbaren Zeit, in die endliche Dauer eines Lebens eingetragen werden kann. An den Rändern der Geometrie: also auch an den Rändern des Rahmens der filmischen Einstellung. Die in der Zeit verstreuten, sich wiederholenden Expeditionen, der verschlungene Raum des Amazonas, die passierten Filme, die Grays Film wie aus einer anderen Zeit erscheinen lassen – all das macht am Rand des kadrierbaren Raums und der Linearität der Zeit den Weg zur verlorenen Stadt Z – und zum Kino – zum Umweg, zur Rückkehr ohne Ende.

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Die Kurve durchbricht den Rahmen. Aber das ist nicht alles. Während sich Fawcett im Amazonas aufhält, brechen die Bilder seiner Frau und seiner Kinder ein; mehrfach äussert er im Angesicht der qualvollen Anstrengungen seinen Mitstreitern gegenüber: «Ich könnte jetzt bei meiner Familie sein.» Die Rückkehr zur und die Rückkehr der Familie, die ihre Mitglieder nie loslässt, ist bei Gray ein ewiges Thema, ein Schicksal, das Fawcett mit dem Mafiakiller in Little Odessa und dem depressiven jungen Mann in Two Lovers teilt. Familie, das ist bei Gray eine Fatalität, ein Rahmen, aus dem man nur austreten können will, aber niemals entkommen kann. Die Familie stellt den Rahmen da wieder her, wo er verlassen wird, wo an seinen Rändern Raum und Zeit zur Kurve werden. Wenn Fawcett den Auftrag zur ersten Expedition akzeptiert, dann um den durch seinen Alkoholiker-Vater ruinierten Familiennamen zu rehabilitieren. Später ist es seine Frau, die ihm in einem Brief einen nur für ihn bestimmten «lost and hidden place» verspricht. Und am Ende wird ihn sein ältester Sohn zum erneuten und gemeinsamen Aufbruch bewegen, damit der Vater sich seinen Lebens­traum erfüllen kann. Der Arm der Familie reicht noch bis in die entlegensten Gegenden, die utopischsten Orte. Wenn die Kurve den Rahmen verlässt, dann führt sie irgendwann wieder in ihn zurück.

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Die epische Rückkehr – zu Z, zum alten Kino – führt in einen intimen Rahmen zurück: Darin ähnelt der Film auch [art:silence:Silence], dem neuen Film von Martin Scorsese. Auch dies ein Film wie aus einer anderen Zeit, von einem der prominentesten lebenden Cinephilen und Fürsprecher für die Bewahrung des Zelluloid­erbes. Scorseses Film handelt von zwei portugiesischen katholischen Priestern im Japan der Christenverfolgung – wie The Lost City of Z spielt er in fremder (und lebensfeindlicher) Erde. Darin liegt auch eine Parabel für ein Kino aus früherer Zeit, deren Priester und Erforscher immer weniger werden. Aber weder für Gray noch für Scorsese geht es um die Stigmatisierung oder Missio­nierung der Fremden, sondern um die Entdeckung des Eigenen: der eigenen Familie, des eigenen Glaubens. Diese Familie, diese Glaubensgemeinschaft ist für beide Regisseure jene des Kinos. Sie überwintert auf unwirtlichem Terrain. Aber ohne Nostalgie, ohne Ressentiment – wichtig ist allein die Bewahrung der eigenen intimen Relation mit dem Kino und seiner Vergangenheit. Wenn das Kino an seinem Rand, seinem Ende, bei Z angekommen ist, strahlt es noch immer in die Dunkelheit und verwandelt ein lebensbedrohliches Gebiet in Terra incognita. Am Ende werden Vater und Sohn von den Indios in der Nacht sanft und liebevoll auf ein Fackelmeer zugetragen. Das Kino verbrennt, aber es brennt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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