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Lago 4

La idea de un lago

Eine argentinische Spurensuche nach dem verschwundenen Vater, bei der die familiären Erinnerungen ihren Platz finden.

Text: Michael Pekler / 11. Juli 2017

Eine unausgesprochene Sehnsucht zieht sich durch diesen Film: nach dem Alltäglichen, aber auch nach der Vergangenheit. Diese Sehnsucht zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Einmal ist da der Wunsch der Fotografin Inés, einen persönlichen Bildband zu vollenden, der vor der Geburt ihres ersten Kindes fertig werden und ihre eigene Kindheit dokumentieren soll. Der Grafiker hat bereits erste Entwürfe vorbereitet, auch die Einleitung ist fertig geschrieben. Handschriftlich. Doch von ihrem Vater, der 1977 während der Militärdiktatur spurlos verschwand, besitzt Inés nur ein einziges Bild – entstanden beim jährlichen Sommerurlaub der Familie in Patagonien. Es zeigt Inés als kleines Mädchen mit einem hageren Mann in hellblauem Hemd, der sie zärtlich an der Hand hält.

Es gibt aber auch den Wunsch, mit der Vergangenheit abzuschliessen. Man hat die sterblichen Überreste von Desaparecidos gefunden, nun könnte man mittels eines genetischen Tests endgültig Gewissheit erlangen. Ein paar Tropfen Blut von Inés und ihrem Bruder Tomás würden genügen. So wie damals, als Inés sich im Urlaub für Tomás mit einem Rosendorn in den Finger stach. Der Bruder bekam seine Kriegsbemalung, doch die Schwester war die Tapfere. Es sind diese stillen und so wenig aufdringlichen Momente, die La idea de un lago nicht nur bestimmen, sondern auszeichnen.

Lago 2d

Die in ihrer Jugend nach Argentinien ausgewanderte Schweizerin Milagros Mumenthaler erzählt in ihrem zweiten Spielfilm, nach ihrem viel beachteten und in Locarno mit dem Goldenen Leoparden prämierten Debüt [art:abrir-puertas-y-ventanas:Abrir puertas y ventanas], von solchen Erinnerungen und davon, was diese in der Gegenwart bewirken. Dazu überlagert sie mehrere Zeitebenen: Da ist die kleine Inés am See, dann als Erwachsene an der Arbeit am Buchprojekt, für das sie die 1600 Kilometer von Buenos Aires nach La Angostura angereist ist, um sich der Vergangenheit zu stellen; und nicht zuletzt gibt es die schwangere Inés in der Gegenwart, die sich mit Freund, Bruder und Mutter auseinandersetzen muss.

Das Schöne an diesem Film ist, wie Mumenthaler diese Ebenen, die verschiedenen Orte und Zeiten, völlig unangestrengt zu einem Gesamtbild formt. Nicht Rückblenden, sondern sich immer wieder öffnende Zeitfenster vermitteln den Eindruck, als würde man in diese Familiengeschichte eintauchen – so wie die kleine Inés in den kristallklaren See. Es ist eine innere Erzählung, die Mumenthaler hier beschreibt, eine Entwicklung, die erst stattfinden kann, wenn die Dinge und Erinnerungen wieder ihren Platz gefunden haben. Die Wehmut, die so oft mit der Sehnsucht einhergeht, weiss Mumenthaler aber zu durchbrechen. Mit so surreal anmutenden Momenten wie jenem, in dem ein grasgrüner Renault 4, das alte Auto des Vaters, zu Neil Diamonds «Song Sung Blue» lustig im See treibt und seine Runden dreht.

Lago 3d

Der Gegenwart in Buenos Aires, die sich vornehmlich in Innenräumen ereignet, steht vor allem die Vergangenheit der siebziger Jahre auf dem Land gegenüber. Doch stets sind diese pasticheartigen Bilder als solche kenntlich gemacht, etwa wenn Inés mit grünen Shorts und gestreiftem T-Shirt die Landschaft wie eine Bühne betritt, sich plötzlich zur Kamera umdreht und so lange auf das Objektiv haucht, bis ihr Atem das Glas beschlägt. Denn natürlich sind es in erster Linie die Bilder, an die man sich erinnert – diese Erzählung ist dem Kino immanent. Wofür sich Mumenthaler aber interessiert, das ist die Art ihrer Verwendung. In einer bezeichnenden Szene vergrössert Inés auf ihrem Laptop – während ihr die Mutter im Sekundentakt Nachrichten sendet – sukzessive das Bild des Vaters, wählt Ausschnitt für Ausschnitt, um schliesslich nur noch die verpixelten Augen eines Mannes zu sehen, der so seine Identität eingebüsst hat. Je genauer man schauen will, desto eher verliert man den Überblick.

Müsste man La idea de un lago auf ein Bild komprimieren, dann wäre es aber nicht jenes am See, sondern eines in der tiefschwarzen Nacht: Mit Taschenlampen ausgerüstet, hat sich eine Schar von Kindern, darunter Inés und Tomás, im Wald versteckt. Jedes Kind, das gefunden wird, muss fortan beim Suchen der übrigen helfen. Und als alle bis auf die Geschwister gefunden sind, nähern sich ihnen die tanzenden Lampen der anderen wie Sterne, deretwegen die Mutter jede Nacht im Freien auf der Terrasse schläft. Es sind aber auch suchende Lichter, die von der Angst und dem Schrecken der argentinischen Geschichte erzählen könnten.

Lago 1d

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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