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Albert Nobbs

Mister Nobbs ist der Hausdiener in Perfektion: vom Scheitel über die steife Fliege bis zur Sohle. Die Geschichte des Albert Nobbs, der in Wahrheit eine Frau ist, basiert auf einer Kurzgeschichte des irischen Autors George Moore. Glenn Close, welche die Rolle bereits vor dreissig Jahren auf der Theaterbühne spielte, verkörpert den in sich gekehrten Kammerdiener ausgesprochen brillant.

Text: Doris Senn / 25. Apr. 2012

Mister Nobbs ist der Hausdiener in Perfektion: vom Scheitel über die steife Fliege bis zur Sohle. Verschwiegen, entgegenkommend, umsichtig, an jede Vorliebe der Gäste sich erinnernd – und für die Besucher des Hauses manchmal etwas kurios («what a nice little man Mr. Nobbs is …»), oft aber gänzlich unsichtbar. So wie sich das für die Wahrnehmung einer selbstgefälligen Oberschicht gegenüber der Dienerschaft gehört.

Wir befinden uns im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in Irland – im Mikrokosmos eines kleinen Nobelhotels, das unter der strengen Fuchtel von Mrs. Baker steht. Ein Grüppchen von teilweise langjährigen Bediensteten wird darauf getrimmt, den wohlhabenden Gästen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und da glänzt insbesondere Mister Nobbs, der mit vorbildlicher Diskretion seine Dienste verrichtet. Doch sein streng gehütetes Geheimnis schwingt für uns als Zuschauer von Anfang an mit – wird die unscheinbare Figur doch von niemand Geringerem als von Hollywood-Star Glenn Close verkörpert und damit offengelegt, dass sich hinter dem unauffälligen Mann eigentlich eine Frau verbirgt.

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Die Geschichte des Albert Nobbs, der in Wahrheit eine Frau ist, basiert auf einer Kurzgeschichte des irischen Autors George Moore. Glenn Close, welche die Rolle bereits vor dreissig Jahren auf der Theaterbühne spielte, verkörpert den in sich gekehrten Kammerdiener ausgesprochen brillant (und war dafür für den Oscar nominiert). Ihre in dieser Rolle steife, uncharismatische Erscheinung mit den engstehenden blauen Knopfaugen, der unbewegten Miene und der betont steifen Haltung blüht nur selten und unmerklich auf. Etwa dann, als in Nobbs’ Kopf ein Projekt Form annimmt, das seinem Leben plötzlich Sinn und Inhalt zu verleihen verspricht. Durch die Bekanntschaft eines “Leidensgenossen” lernt er nämlich, nicht der Einzige auf dieser Welt zu sein, welcher sich durch die Geschlechtermaskerade einen neuen Platz in der Gesellschaft erobert hat. Und so hegt Nobbs unversehens Hoffnung, aus dem Dienstbotendasein auszubrechen – schliesslich spart er dafür jeden einzelnen Penny des sauer verdienten Trinkgelds. Ausserdem hat er in etwas selbstüberschätzender Weise ein Auge auf das hübsche junge Dienstmädchen Helen (Mia Wasikowska aus Jane Eyre und Gus Van Sants Restless) geworfen, mit der er in naher Zukunft zusammen ein Geschäft übernehmen und eine “Familie” gründen möchte …

Glenn Close – die von Haus aus Theaterschauspielerin ist und erst mit dreissig Jahren erstmals in einem Film auftrat – war als Drehbuch-Co-Autorin und Co-Produzentin die treibende Kraft hinter dem Filmprojekt. Dieses war schon vor rund zehn Jahren nahe dran, realisiert zu werden, platzte dann aber. Heute nun ist die fünfundsechzigjährige Schauspielerin – die ihren grossen Durchbruch als Alex in Fatal Attraction hatte und als Marquise Isabelle de Merteuil in Liaisons Dangereuses und als Cruella de Vil in 101 Dalmatiner Triumphe feierte – stolz darauf, die Produktion von Albert Nobbs ohne Hollywood-Geld geschafft zu haben. Als Regisseur fungierte Rodrigo García – der Sohn des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez. García, der bislang vor allem für TV-Produktionen arbeitete – darunter in ein paar Episoden für Six Feet Under – und Glenn Close als Regisseur von Nine Lives (2005) kennenlernte, führte nun gleich zwei Schauspielerinnen zu Oscar-Ehren: Nebst Glenn Close war auch die britische Janet McTeer nominiert – als beste Nebendarstellerin und ebenfalls in einer “Männerrolle”.

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Die «Frau in Männerkleidern» ist ein Topos der Volksliteratur und eine historische Realität, wie Forschungen der Sozialgeschichte und der Gender Studies an verschiedenen Beispielen eruiert haben. Die Motivation, weshalb eine Frau sich dazu entscheidet, ihre Geschlechterrolle in der Gesellschaft zu wechseln und als Mann “durchzugehen” – und das in verschiedenen bezeugten Fällen durchaus “erfolgreich” bis hin zur verbürgten Heirat mit einer Frau! –, konnte ganz unterschiedliche Gründe haben. Bei Nobbs ist es ein traumatisches Gewalterlebnis – und der Wille, allein und ohne Unterstützung sich das Leben zu verdienen. Der Preis, den er dafür bezahlt, ist Einsamkeit und eine erdrückende Angst, dass das Geheimnis auffliegen könnte.

García siedelte das Geschlechterdrama in einem oft malerisch unter fallenden Schneeflocken liegenden, akkurat rekonstruierten viktorianischen Dublin an – ein Setting, das Close in einem Teil der irischen Stadt selbst entdeckt hatte. Der hauptsächliche Ort des Dramas – das Hotel Morrison’s – ist dabei nicht nur Schauplatz für die damals riesigen Klassenunterschiede zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen Gästen und Dienstboten, er ist auch Bühne für ein kleines Mise en Abîme der Travestie des Albert Nobbs: als ein Maskenball organisiert wird, den die Gäste mit viel Kostümbrimborium begehen – und im Rahmen dessen einen ausgelassenen Abend lang Männer sich mit schulterfreien Abendkleidern herausputzen und Frauen sich im Frack und mit Zigarette auf den Sesseln drapieren. Ein kleines Stück frivole Utopie, das den aufreibenden realen Alltag in der Geschichte um Albert Nobbs persifliert, in deren Zentrum eine unbestritten virtuose Glenn Close steht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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