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Alle anderen 04

Alle Anderen

Text: Michael Ranze / 03. Juni 2009

Sommer, Sonne, Sardinien. Ein junges Paar, Anfang dreissig, macht Urlaub auf einer schönen Insel. Das ist zunächst einmal ein Glücksversprechen. Der Alltag bleibt aussen vor, keine beruflichen Sorgen, viel Zeit, sich zu entdecken und noch besser kennenzulernen. Aber: Man kann nicht voreinander fliehen und muss sich mit dem Gelingen der Zweisamkeit beschäftigen, mit allen Sehnsüchten, Zweifeln und Auf und Abs, die die Unsicherheit der Liebe, ihre stete Veränderung, ausmachen.

Gitti und Chris verbringen ihren Urlaub im Ferienhaus von Chris’ Eltern. Sie lieben und sie necken sich, gestehen sich die Lust aufeinander, lassen die Seele baumeln. Doch so ganz haben sie den Alltag nicht in Deutschland zurücklassen können. Gitti arbeitet als Presseagentin bei Universal Music. Gelegentliche Anrufe ihrer Vertretung zeugen davon, wie unentbehrlich sie ist. Chris ist Architekt, noch am Anfang seiner Karriere, noch mit Idealen. In der Nähe soll er ein Haus renovieren. Stattdessen will er es lieber abreissen und neu aufbauen. Und dann erfährt er am Telefon, dass sein Entwurf im Wettbewerb um einen lukrativen Auftrag unterlegen ist. Anstatt Gitti davon zu berichten, verschweigt er sein Scheitern. Er will nicht als Versager dastehen und ist es gerade darum. Die erste Irritation. Plötzlich legt sich eine unmerkliche Spannung über den Film. Ein falsches Wort, und die Stimmung könnte umschlagen.

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Der neue Film von Maren Ade – sie überzeugte 2005 mit dem beklemmenden Drama Der Wald vor lauter Bäumen – besticht vor allem durch die präzise, einfühlsam nachgespürte Charakterisierung seiner Figuren. Gitti bezieht ihr Selbstbewusstsein aus dem beruflichen Erfolg. Sie ist eine moderne junge Frau, energisch und unternehmungslustig. Sie sagt, was sie will, und trägt Konflikte offen aus. «Ich find’ dich sexy» – das kommt ihr leicht über die Lippen. Und doch ist sie in Bezug auf Chris und seiner Liebe zu ihr unsicher. Schwer, es ihm recht zu machen. Darum passt sie sich ihrem Freund immer mehr an. Chris hingegen ist der Mann ohne Eigenschaften, ein introvertierter Typ, dessen ruhige Ausstrahlung auf Gitti einmal anziehend gewirkt haben muss. Chris ist einer, der sich nur durch andere definiert. Er eignet sich sogar die Geschichten anderer an, um sie weiterzuerzählen und als seine eigenen auszugeben. Dabei hofft er ständig, dass ein wenig von der Energie Gittis auf ihn abstrahlt. Vergeblich. Chris erinnert in seiner Antriebslosigkeit an Marcello Mastroianni in Michelangelo Antonionis La notte. Zwei Männer, die unfähig sind, Entscheidungen zu treffen, und mit ihrer Untätigkeit die Katastrophen in ihrem Leben erst heraufbeschwören. Zur Ambivalenz der Figuren gehört auch, dass der Zuschauer für keinen der beiden Partei ergreifen will. Im Gegenteil: Die Sympathie wechselt von Szene zu Szene. Was eben noch sicher schien, ist es plötzlich nicht mehr.

Mit einem ebenso einfachen wie klugen Kunstgriff präsentiert Maren Ade, die auch das Drehbuch schrieb, ein zweites Paar, das komplementäre Gegenstück zu Gitti und Chris, wenn man so will. Hans, Chris’ ehemaliger Studienkollege und nun erfolgreicher Architekt, und seine Freundin Sana, gefragte Modedesignerin, machen auch auf der Insel Urlaub. Zwei, die sich bereits arrangiert haben, beruflich und privat. Sana tritt hinter ihrem jovialen Freund, der stets ein wenig zu aufgedreht und angeberisch wirkt, einfach zurück. Gitti hingegen muss noch immer nach ihrer Position in der Beziehung suchen. Unvermeidliche Folge: Das Machtgefüge innerhalb des Quartetts verschiebt sich, mehrmals sogar. Eben noch hatte sich Chris auf die Seite von Hans geschlagen, den er insgeheim wegen seines Erfolges und seiner Dominanz bewundert, nur um ihn dann mit dem grausamsten Geständnis des Films zu konfrontieren: «Du bist gar nicht mein Freund!»

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Maren Ade beschreibt mit wenigen Mitteln die widersprüchliche Natur der Liebe, «dieses chaotische Geflecht aus Sehnsüchten, Geheimnissen, Ansprüchen, Machtverhältnissen und Ritualen», wie sie selbst sagt. In langen, ruhigen Einstellungen fängt die Kamera von Bernhard Keller, einem neutralen Beobachter gleich, die Charaktere ein und legt ihre Gefühle frei. Das ist natürlich nur möglich mit den richtigen Schauspielern. Lars Eidinger und Birgit Minichmayr agieren mit erstaunlicher Natürlichkeit. Die widerstreitenden Gefühle, die Scheu und auch den Hass empfinden sie adäquat nach. Auch wenn es so aussieht: Improvisiert ist hier nichts. Alles ist bereits in den Dialogen von Maren Ade angelegt.

Eine weitere Hauptrolle spielt auch das Ferienhaus, das zum einen wie ein Stück Deutschland in Italien anmutet, zum anderen – als elterlicher Besitz – zusätzliche Reibungsfläche bietet. Der Grund, darauf hat Ade selbst verwiesen: «Im Verlauf des Films passen sich die “Kinder” dem Haus an und nehmen die Plätze der Eltern ein.» Die Selbständigkeit, das Erwachsenwerden wird so erschwert. Einmal besichtigen beide Paare das weissgestrichene Zimmer der Mutter, das durch allerhand Nippes und Kitsch voller Sehnsucht steckt. Eine Sehnsucht, die sich auf Chris und Gitti überträgt und sich sogar im Soundtrack des Films niederschlägt. In der vielleicht intimsten Szene des Films ist Chris nicht in der Lage, den Song «Ich hab’ dich lieb» von Herbert Grönemeyer abzustellen, der mit seinem simplen Rock-Rhythmus und den aufdringlichen Metaphern alle nervt. Jemand anderes muss es für ihn tun. Treffender lässt sich der Stillstand dieses Mannes, die Angst vor den Folgen seines Tuns, nicht abbilden.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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