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«Auf den Spuren des Lebens»

War «Der Kongress der Pinguine» ein eher didaktischer Film, der Umweltfragen zu zeigen versuchte, so versuche ich diesmal, das Leben selber zu zeigen, an elementare Lebensformen heranzukommen, wo es keine Häuser und keine Strassen mehr gibt, wo man nur die Landschaft sieht, die Sprache der Erde, wie ich einmal sage.

Text: Gerhart Waeger / 01. Nov. 2005

FILMBULLETIN Ein wichtiger Teil Ihres neuen Films handelt von sogenannten «Nahtod-Erfahrungen». Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

HANS-ULRICH SCHLUMPF Zum Ursprung des Films gibt es verschiedene Stränge. Ein wichtiger ist sicher, dass er für mich eine Weiterentwicklung des Films Der Kongress der Pinguine gewesen ist. Dort habe ich ja auch einen Traum als Grundlage genommen. Schon dort geht jemand in eine andere Welt, die sehr gross ist und in der man zeitlich und räumlich springen kann. Ich habe nach einer ähnlichen dramaturgischen Form gesucht und bin dabei auf das Gebiet der Nahtod-Erfahrung gestossen, die ja ebenfalls traumhafte Elemente enthält. Dies ist ein eher formales Element. Dann gibt es auch ein inhaltliches: Seit meiner Kindheit habe ich das Gefühl, dass sich von einer Sekunde auf die andere alles ändern kann – durch einen Unfall etwa oder ein Erdbeben. Diese Gratwanderung hat mich immer fasziniert – vor allem auch im Leben von jemandem, der sehr erfolgreich ist und nun plötzlich mit seiner eigenen Seele, seinen eigenen geistigen Entitäten konfrontiert wird. So bin ich auf das Thema von jemandem gestossen, der einen Unfall erlebt und dabei eine Nahtod-Erfahrung macht, die für ihn zu einer Reise zu sich selber wird, aber auch zur Natur. Damit kommt wieder das Leitmotiv aus Der Kongress der Pinguine ins Spiel. War jener ein eher didaktischer Film, der Umweltfragen zu zeigen versuchte, so versuche ich diesmal, das Leben selber zu zeigen, an elementare Lebensformen heranzukommen, wo es keine Häuser und keine Strassen mehr gibt, wo man nur die Landschaft sieht, die Sprache der Erde, wie ich einmal sage. Insofern gibt es in dem Film ein formales und ein inhaltliches Element. Hinzu kommt der Gegensatz zwischen dem fast leblosen Körper des Protagonisten, der künstlich am Leben erhalten wird, und dem, was in ihm vorgeht. Ob dies einem realen Nahtod-Erlebnis tatsächlich entspricht, will ich gar nicht wissen. Dies ist in etwa der Ursprung von meinem Konzept. Natürlich stellt sich dann die Frage, wie man dies alles strukturiert und aufbaut. Wichtig war für mich dabei, dass ich diese Art von elementarer Natur persönlich sehr stark erlebe.

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FILMBULLETIN Ein Adler spielt in Ihrem Film eine wichtige Rolle.

HANS-ULRICH SCHLUMPF Es stellte sich die Frage: Wie gebe ich dem Blick von oben einen Standpunkt, ein Subjekt. So kam mir der Einfall von einem Seelenvogel. Auch hier spielt Formales und Inhaltliches zusammen. Formal ist es die Vogelschau, ein Blick von oben. Die Flugaufnahmen sind von einem Auge aus gemacht, das man kennt. Dann ist es auch ein Seelenvogel. Der Protagonist spricht ja mit ihm: «Ich kenne dich.» Dies ist ein uraltes Motiv, das ich faszinierend gefunden habe. Zuerst wollten wir einen Falken nehmen. Doch Falken sind viel zu schnell und auch zu klein für einen Seelenvogel. So kamen wir auf den Steinadler, den es in Alaska tatsächlich gibt. Josef Hiebeler, der die Flugaufnahmen des Adlers gemacht hat, kam für die Dreharbeiten zweimal in die Schweiz.

FILMBULLETIN Auch andere Tiere sind in Ihrem Film sehr wichtig.

HANS-ULRICH SCHLUMPF Die Erdhörnchen gehören einfach zur Natur, sind ein Teil von ihr. Sie gefallen mir ganz besonders, weil sie – ähnlich wie die Pinguine – immer auf zwei Füssen stehen. Wie sie miteinander spielen und gelegentlich auch streiten sind sie für mich ein Sinnbild von Zärtlichkeit in der Natur, für den sozialen Umgang miteinander, bevor es uns gegeben hat. Es ist nicht alles erst durch uns Menschen in die Welt gekommen. Vieles ist bereits vorhanden, wenn vielleicht auch nicht in der gleichen bewussten Form. Es kommen auch Bisons ins Bild. Darauf kam ich durch ein Wandbild, das seinerzeit in unserer Schule hing, auf dem Mammuts und Bisons beim Lindtgletscher weiden. Auch die Landschaft, in der diese Tiere leben, empfand ich als fast paradiesisch. Im Rahmen seines Naturerlebnisses realisiert auch der Protagonist des Films, dass er nicht einfach abheben kann, sondern ins Leben zurückkehren muss.

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FILMBULLETIN In seinem Selbstgespräch erinnert sich Fred Böhler, der dies alles träumt, an die Ausführungen seines Lehrers Hersperger.

HANS-ULRICH SCHLUMPF Hersperger gab es wirklich. Er unterrichtete Biologie und war einer meiner Lieblingslehrer. Er zeigte die Sukzession nicht an Gletschern, sondern an einer Hausmauer mit Flechten, Moospartien und weiteren Pflanzen. Die Sukzession finde ich etwas vom Faszinierendsten, weil sie zeigt, dass sich das Leben auch in einer lebensfeindlichen Umgebung immer wieder durchzusetzen versteht. Und das sieht man eben in Alaska an diesen riesigen Schutthalden, auf denen das Leben langsam hervorspringt und immer dichter wird, bis es Wälder sind. Der Sukzessionsgedanke – das Leben erobert sich immer wieder neue Gebiete – ist mir sehr wichtig. Das individuelle Leben ist zerbrechlich, doch das kollektive Leben setzt sich immer wieder durch. Der Film geht weiter mit dem Blick in die Mikrobenwelt eines Wassertropfens. Dass die Gestaltung der Erde (mit Hilfe der Mikroben) durch das Leben selbst vorgenommen worden ist, finde ich einen sehr tröstlichen Gedanken. Dazu kommt, dass die Lebewesen von einem Formenreichtum und einer Schönheit sind, die ja bereits Ernst Haeckel in seinen berühmten Bildern dargestellt hat. Heute kann man den Reichtum dieser kleinen Lebewesen auch fotografieren. Der Artenreichtum ist grösser als alles, was sonst lebt. Hersperger ist in dem Sinne eine Kunstfigur, als er solche Erkenntnisse herüberbringt, ohne didaktisch zu wirken.

FILMBULLETIN Auch der Übergang von den zugefrorenen Flüssen in die fliessenden Gewässer scheint Ihrer Naturvorstellung zu entsprechen.

HANS-ULRICH SCHLUMPF Es ist ein Grundgedanke des Films, dass er dem Wasser entlanggeht. Mit zwei Ausnahmen zeige ich die Dinge immer von oben nach unten. Das heisst, man folgt immer der Schwerkraft des Wassers. Das ständige Weiterfliessen von den Eisgipfeln bis in die Sedimentebenen ist mir sehr wichtig. Ich bin stark geprägt durch die Filmgeschichte und versuche trotzdem, neue Formen zu finden. Auch die Musik hat zur Gestaltung des Films sehr viel beigetragen. Fazil Say ist ein grossartiger Komponist und Pianist. Er sass vor einer grossen Leinwand und improvisierte zu den vorbeiziehenden Bildern. Ich war sehr froh, dass ich ihn für eine Mitwirkung gewinnen konnte.

Das Gespräch mit Hans-Ulrich Schlumpf führte Gerhart Waeger

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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