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Berlinale 2023 Sur l Adamant Nicolas Philibert Richard Hübner Berlinale
Nicolas Philibert erhält den Goldenen Bären für Sur l'Adamant. Die diesjährige Berlinale wog politisch schwer. Bild: © Richard Hübner, Berlinale

Die 73. Berlinale: Zwischen Vergessen, Erinnerung und Revolte

Die Filmfestspiele wollen uns sagen: Das Kino betrifft uns. Die Filme tun das aber nicht unbedingt.

Text: Sabrina Schwob / 01. Mär. 2023

Die Gewinner stehen fest: Sur l'Adamant von Nicolas Philibert nimmt den Goldenen Bären mit nach Hause, Christian Petzold mit Roter Himmel den Silbernen. Neben den Siegerfilmen wurde die Berlinale dieses Jahr ihrem Ruf gerecht, ein politisches Festival zu sein. Doch das leider nicht immer zum Besten der Filmkunst.

Der berühmte Berliner Bär, der auf den alten Plakaten der Berlinale zu sehen war, hat für die 73. Ausgabe der Filmfestspiele geometrisch geformten Figuren Platz gemacht, die in einem Kinosaal sitzen. Sie schauen uns mehr oder weniger abwesend an – denn wir haben den Platz der Projektionsfläche eingenommen. Das ist eine geschickte Art zu signalisieren, dass uns das Kino betrifft, dass die Grenze zwischen ihm und den psychologischen, sozialen und politischen Phänomenen, die uns beschäftigen, durchlässig ist.


Das Kino, Ort der Erinnerung

In The Beast in the Jungle (Sektion Panorama), einer Verfilmung des Romans von Henry James, wartet John (Tom Mercier) auf das Eintreffen eines aussergewöhnlichen Ereignisses, wobei ihm noch nicht klar ist, was das sein wird. Er lebt nur mit Blick auf eine Zukunft – Vergangenheit und Gegenwart dagegen sind ihm gleichgültig. Nicht einmal die Liebe von May (Anaïs Demoustier), mit der er sich während 30 Jahren beinahe ausschliesslich in einem Pariser Nachtclub getroffen hat, ist ihm noch etwas wert. Das Leben entgleitet ihm. Es verliert seine Sinnlichkeit – metaphorisch dargestellt durch Johns Desinteresse am Tanzen. Es gerät aber in seiner zeitlichen Dimension durcheinander: John durchquert die Epochen, ohne etwas davon zu begreifen.

Diese Achterbahnfahrt wird zu einer Fabel über die Notwendigkeit, aus sich selbst herauszugehen, um den anderen zu treffen. Tom Mercier und Anaïs Demoustier spielen ihre Figuren mit einer schönen Gegensätzlichkeit. Sein Spiel ist grosszügig, spontan und heiter, während das ihre eine seltsame Zurückhaltung ausdrückt, die von einem gewissen Unbehagen zeugt.

Die Protagonistin in Regardless of Us (Sektion Forum) hat bei Unfall ihr Gedächtnis verloren. Die bettlägerige Schauspielerin wird von mehreren Personen eines Filmteams besucht. In dem Film soll sie die Hauptrolle gespielt haben. Da sie aber keine Erinnerung an die Dreharbeiten hat und auch nicht bei der ersten Aufführung des Films dabei war, lässt sie sich die verschiedenen Versionen des Films erzählen, die im zweiten Teil des Werks zum Leben erweckt werden. Das Mise en abyme und die überwiegend monochromen Aufnahmen dieses südkoreanischen Werks von Yoo Heong-jun erinnern an das Kino von Hong Song-soo. Das ist eine hübsche Ode an die Gedächtniskraft des Mediums, das dem Hypothetischen zu Möglichkeiten verhilft, real zu werden.

Das bewegte Bild wird im Animationsfilm A Kind of Testament (Sektion Berlinale Shorts) von Stéphane Vuillemin zum Speichermedium der Erinnerungen. Eine junge Frau gibt ihren Vor- und Nachnamen im Internet ein und entdeckt morbide animierte Kurzfilme, in denen sie zu sehen ist. Es ist eine ältere, an Krebs erkrankte Frau mit demselben Vor- und Nachnamen, die diese Filmchen mithilfe von Fotos ihrer jüngeren Namensvetterin herstellt. Die Bilder stammen aus den sozialen Netzwerken. In dieser Erzählung hält die Fotografie die Zeit fest und ermöglicht eine ewige Jugend. In den Kurzfilmen dagegen stehen die Bilder nur für jeweils einen Augenblick, bevor der Tod aufdringlich und unerwartet hereinbricht.


Dissidenz

Ein anderer Teil der Auswahl besteht, nicht unbedingt zum Besseren, aus engagierteren Filmen. White Plastic Sky der ungarischen Filmemacher Tibor Bánóczki und Sarolta Szabó (Sektion Encounters) ist eine dystopische ökologische Fabel und animierter Science-Fiction-Film zugleich. Darin wird dem Einzelnen bei seinem Tod – vorzeitig oder spätestens mit 50 Jahren – ein Samen eingepflanzt, der ihn in einen Baum verwandelt und es ihm so ermöglicht, den Rest der Bevölkerung mit Sauerstoff zu versorgen und zu ernähren. Die Geschichte, die sowohl an Orpheus und Eurydike als auch an Romeo und Julia anknüpft, bleibt schwach. Die Animationstechniken beeindrucken aber, besonders die Rotoskopie, die einen realistischen Effekt erzeugt.

In Daniel Bandeiras Propriedade (Sektion Panorama) verkehrt sich ein politischer Diskurs in sein Gegenteil. Eine Frau, nach einem Überfall traumatisiert, hat Schwierigkeiten, ein normales Leben zu führen. Sie beschliesst, mit ihrem Mann ein paar Tage auf ihrer Farm zu verbringen. Sodann erfährt das dortige Personal, dass das Anwesen verkauft werden soll und die Arbeitsplätze verloren gehen werden. Die Angestellten rebellieren gegen den Entscheid und greifen die Verantwortlichen mitunter gewaltsam an. Das Thema Landlosigkeit ist im brasilianischen Kino sehr präsent, doch die unverhältnismässige Gewalt führt hier kurioserweise dazu, dass das Publikum sich mit dem bürgerlichen Ehepaar solidarisiert und ungeduldig auf das groteske Spiel der Bauern reagiert.

Filme wie Propriedade verweisen zurück auf das eingangs erwähnte Festivalplakat, welches das Publikum zeigt. Wir sind gemeint, wir sollen vom Zuschauen ins Handeln kommen. Ein Anspruch, den das Festival verinnerlicht hat und symbolträchtig nach aussen trägt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs, dessen Ausbruch sich just während der diesjährigen Ausgabe jährte.

Dieser Artikel entstand als Kooperation mit Ciné-Feuilles und wurde aus dem Französischen übersetzt.

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