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Das fraeulein 03

Das Fräulein

Die Themen Heimat und Fremde stehen im Zentrum von Andrea Štakas Das Fräulein. Das hat nicht nur mit der Geschichte der jungen Filmemacherin zu tun, die in der Schweiz aufgewachsen ist, aber kroatisch-bosnische Wurzeln hat. Das verbindet Štakas Debütspielfilm auch mit ihrem vorgängigen Werk, dem dokumentarischen Yugodivas, über fünf Künstlerinnen und Musikerinnen aus Ex-Jugoslawien.

Text: Doris Senn / 01. Nov. 2006

Die Welt in Das Fräulein dreht sich um drei Frauen: Da ist zuerst Ruža – vor fünfundzwanzig Jahren von Belgrad nach Zürich ausgewandert und doch nie angekommen. Heute ist sie fünfzig und leitet eine Kantine im Industrieviertel. Ruža ist streng mit sich und mit andern, einsam und doch unnahbar für die Avancen des Hauswarts Franz. Der Heimat begegnet sie einzig noch in ihren (Alb-)Träumen – während das «bessere Leben», für das sie Land, Familie und Freunde zurückliess, sich in einer abgegriffenen Keksdose materialisiert hat, in der sie ihr Erspartes aufbewahrt. Anders und doch ähnlich geht es der sechzigjährigen Mila, die unter Ruža arbeitet: Bereits in den Siebzigern kam sie mit ihrem Mann aus Kroatien in die Schweiz. Die Söhne sind erwachsen, das Haus am Meer noch immer im Bau, während der Traum von der Rückkehr uneingestanden verblasst. Obwohl Ruža und Mila das Herkunftsland teilen, markiert Ruža die Chefin und besteht auf einem steifen Hochdeutsch. Nicht nur darüber wundert sich die junge Ana, die per Autostop aus Sarajevo in Zürich strandet: Lebenshungrig driftet sie durch die fremde Stadt, offen für Menschen und Begegnungen – und gleichzeitig bedrängt von düsteren Erinnerungen: an den Krieg, den Selbstmord des Bruders, die eigene Krankheit. Sie landet bei Ruža und bringt von Stund an Bewegung ins steife Kantinenleben.

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Die Themen Heimat und Fremde stehen im Zentrum von Andrea Štakas Das Fräulein. Das hat nicht nur mit der Geschichte der jungen Filmemacherin zu tun, die in der Schweiz aufgewachsen ist, aber kroatisch-bosnische Wurzeln hat. Das verbindet Štakas Debütspielfilm auch mit ihrem vorgängigen Werk, dem dokumentarischen Yugodivas, über fünf Künstlerinnen und Musikerinnen aus Ex-Jugoslawien. Während sich dort die vorwiegend jüngeren Protagonistinnen den Fragen nach Exil, Entwurzelung, Identität im Gespräch oder in der künstlerischen Auseinandersetzung stellten – kristallisieren sich diese Themen in Das Fräulein an der Begegnung dreier Frauen verschiedener Generationen heraus.

Ruža, Mila, Ana – jede versucht auf ihre Weise, mit dem Fremdsein in der Fremde zu Rande zu kommen, mit Erinnerungen und Wunschträumen zu leben. Die Regisseurin versteht ihren Film als figurenzentriertes Drama und erschafft ihre Charaktere von innen heraus: Oft zeigt sie ihre Protagonistinnen allein und selbstvergessen – während es der Kamera immer wieder gelingt, in einem Spiel von Schärfe und Unschärfe eine Figur ihrem Hier und Jetzt zu entziehen. So sehen wir Ruža – gespielt von Mirjana Karanovic aus Grbavica –, wie sie versonnen allmorgendlich die ersparten Münzen und Geldscheine durch ihre Finger gleiten lässt. Oder Mila, die sich im Anblick eines Spinnennetzes verliert, das über den Fernsehschirm in ihrer Stube flimmert – gebannt von diesem Bild, das ihre innere Bedrängnis so anschaulich verkörpert. Oder Ana, die durch die Anonymität der Stadt treibt und sich immer wieder abschiedslos den Umarmungen ihrer nächtlichen Bekanntschaften entwindet.

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So emotional und komplex die Frauen gezeichnet werden – so isoliert wirken sie allerdings gegen aussen, so schemenhaft ihre Gegenüber: etwa der gutmütige, aber etwas grobstoffige Franz, in dessen Armen Ruža nach einem ausgelassenen Fest schliesslich doch noch landet. Ana wiederum kollidiert immer wieder mit der gefühlskalten Atmosphäre der hiesigen Wohlstandswelt: mit den Drogensüchtigen, die sich ausgerechnet bei ihr Kleingeld erbetteln, mit einem Mann, der auf Anas Hilfestellung barsch reagiert, oder mit der Apothekerin, die Ana grob abfertigt, als sie ein rezeptpflichtiges Medikament erstehen will. Überhaupt erscheint die Stadt als durchgehend anonymes, unterkühltes Ambiente: Frostige Grün-Blau-Töne bestimmen das Bild einer spröden Urbanität – eine meisterlich durchkomponierte Kameraästhetik, die allerdings etwas klischeehaft von Abweisung und Einsamkeit erzählt.

Umso stimmiger dafür die Beziehungswelt zwischen den drei Frauen. Hier ist auch die emotionale Dynamik des Films angesiedelt, die die Kamera in einen lebhaften Wechsel von ruhigen und impulsiven, von erzählenden und atmosphärischen Bildern übersetzt: Formal verspielte Intermezzi fügen sich in die Handlung ein – etwa wenn Ana durch die Nacht tanzt oder wenn Ruža und Ana sich bei einem Ausflug in die Berge eine Schneeballschlacht liefern. Schliesslich ist es die Begegnung mit Ana, dank der Ruža sich aus ihrer Starrheit zu lösen vermag, sich ihrer Vergangenheit zuwenden kann – und Mila endlich ausspricht, was sie schon lange in ihrem Innern fühlt: dass sie ihrer alten Heimat entfremdet ist und nicht mehr dorthin zurückkehren mag. Einzig Ana bleibt paradoxerweise in ihrem Dilemma, ihrem Leben zwischen einem prekären Jetzt und einem schmerzvollen Gestern gefangen. Was der Film mit einem schwebenden Ende nachdrücklich offen lässt. Das Fräulein wurde in Locarno mit dem Goldenen Leopard sowie in Sarajevo mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet. Für ihre darstellerische Leistung als Ana erhielt die kroatische Nachwuchsschauspielerin Marija Skaricic ebenfalls in Sarajevo den Preis als beste Darstellerin.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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