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Die Zeit mit Kathrin

Aus dem Schwarz leuchten nachtblau Vorspann und Titel. Die Zeit mit Kathrin. Ein Film von Urs Graf. Und, noch im Dunkel, Musik. Langsame, helle Töne, dann dunkler. Nachdenklich, zärtlich. Leichte Bewegungen, Raum öffnend. Klänge wie Spuren, erste Schritte.

Text: Verena Zimmermann / 01. Dez. 1999

Erste Bilder. Ein behutsames Anfangen. Präludium.

Aus dem Schwarz leuchten nachtblau Vorspann und Titel. Die Zeit mit Kathrin. Ein Film von Urs Graf. Und, noch im Dunkel, Musik. Langsame, helle Töne, dann dunkler. Nachdenklich, zärtlich. Leichte Bewegungen, Raum öffnend. Klänge wie Spuren, erste Schritte.

Ein helles Bild und ein, zwei Augenblicke lang noch die Musik. Die erste Seite des Arbeitstagebuches: 1. Jahr. 1994, März. Die Kamera nimmt den linken Seitenteil in den Blick, schwenkt langsam über Maschinenschrift, Zeilenanfänge, über einen eingeklebten Ausschnitt aus einem gedruckten Text, auf eine ins Arbeitstagebuch geheftete schwarzweisse Fotografie. Das Gesicht einer jungen Frau. Auf dem Foto hält der Schwenk an. Das Bild bleibt stehen.

Diese erste Einstellung zeigt Arbeitsmaterial, Notizen eines Anfangs. Sie sind, im Off-Ton, der Auftakt des Kommentars. «1994. März. Aufnahmeprüfung der Schauspielakademie Zürich. 200 Bewerbungen. Aufgenommen werden etwa fünf Männer und fünf Frauen. – In einer Broschüre der Schule war ich auf die drei Sätze gestossen: Auf der Bühne wird eine Figur nur das ausstrahlen, was aus dem Darsteller in sie einfliesst. Und: Wir erwarten von den Schülern und Schülerinnen auch, dass sie den Freiraum der Schule nutzen, um die Rolle zu erkunden, die sie in ihrem Leben spielen – aber auch das, was ihnen fremd ist – Vorstellbares und Unvorstellbares. Und: Man sagt: Die Schauspielschule ist ein Ort, wo erforscht wird, was der Mensch ist und was er darüber hinaus noch alles sein könnte. – Katharina Bohny sagte: So habe ich die Schauspielausbildung noch nie betrachtet, doch neugierig bin ich schon darauf.»

Das ist dichtes Berichten zu einem Bild, das man ertasten zu können meint. Das Interesse des Autors in wenige Sätze gefasst, die Frau auf dem Foto benannt, als Schauspielschülerin und mit eigenen Worten als Partnerin und Gegenüber des Autors kenntlich gemacht – in Bild und Ton, die hier eng verklammert sind. Hören, Sehen und in der Vorstellung die sozusagen sinnliche Erfahrung des Materiellen des Tagebuches gehen zusammen. Später trennen sich Bild- und Kommentarstrang. Ein behutsamer Anfang, von Titel und ersten Musikklängen an, ein Anfang, der ganz – wie jeder Schritt des Films – in der Gegenwart bleibt. Und wie jede Szene in eine Schwarzblende übergeht.

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Eine zweite Einstellung, ein nächster Tagebucheintrag im gleichen fragmentarischen Bildausschnitt wie vorher, und der ganze Text im gesprochenen Kommentar: «April. Sie wurde an die Schule aufgenommen. – Sie sagt: Wenn sie mich hier nicht genommen hätten, hätte ich einen andern Weg gefunden, um Schauspielerin zu werden.» Die Schwarzblende unterbricht, aber in der nächsten Einstellung ist die letzte Zeile bruchstückhaft noch zu sehen über der Fortsetzung: «Mai. Unterzeichnung der Vereinbarung über unsere Zusammenarbeit …» Der Ton, der Kommentar, vervollständigt den Text, das Bild aber überblendet in die Aufnahme der Vertragsunterzeichnung: Kathrin am Tisch. Sie liest in den vor ihr liegenden Blättern, nimmt den Füllfederhalter, schaut kurz auf – sie hat ein Gegenüber, auch wenn es nicht im Bild ist – und unterschreibt. «Seit sie mir das Formular mit den Angaben zu ihrer Person gezeigt hat, bin ich mir meiner Wahl sicher: In der Rubrik «Besondere Fähigkeiten und Interessen» hatte sie notiert: Reisen, Sprachen, Tanzen, Singen, Schokolade, Volleyball.» Der Autor, Kathrin Bohnys Partner in solchen, in allen Szenen (ausser den späten, im Aussen, in der Stadt angesiedelten Flanierszenen), sagt gleichzeitig etwas über Kathrin und etwas über sich aus: Bild und Kommentar-Ton bringen beide das gemeinsame Interesse zum Ausdruck.

Hier beginnt die filmische Zusammenarbeit. Kathrin, erstmals der Filmkamera gegenüber, äussert sich stumm. Die Szene gehört noch zum behutsamen Herangehen, zum Präludium, zur Skizzierung der Ausgangssituation. Mehr werden wir darüber nicht erfahren. Jedenfalls nicht in rückblickendem Berichten oder Erklären. Aber wir werden immer mehr über das Interesse erfahren, das den Autor – das Ich des Kommentars, das ein männliches Ich, eine Männerstimme, ist (wie Urs Graf im Gespräch betont) – dazu bewegt hat, den Weg einer jungen Frau zu verfolgen, allerdings nicht, weil er etwas erklären würde, sondern allein im Spiegel der Erfahrungen, die Katharina Bohny macht, und im Spiegel seiner eigenen Auseinandersetzungen mit diesen Erfahrungen.

Mit der nächsten Einstellung – 1. Jahr, August. – beginnt der Unterricht. Akrobatik, einfache Übungen, und das erste, was wir als O-Ton hören, ist die Frage eines Lehrers: «… was würdest du sagen, mit welchen Sinnen bist du jetzt an dieser Arbeit beteiligt?» Kathrin macht elementare Körpererfahrungen. Es wird viel gelacht, kindlich fast, in dieser frühen Schulszene. Der Film geht aus ihr hinaus. Nächste Übungen gelten Konzentration, Gleichgewicht, Wahrnehmung.

«Das sind schreckliche Bilder, sagte Kathrin. … ein Bündel von Verlegenheitsgesten … Kathrin sagte auch: Ich bin froh, diese Bilder gesehen zu haben – das muss sich ändern.» (1. Jahr, Oktober.)

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Schluss-Bilder, Schluss-Töne. Ein Ende. Ein Aufbruch.

Eineinviertel Film-Stunden später – 4. Jahr, November. – verbeugen sich Katharina und ihre Kolleginnen, Kollegen nach dem Diplom-Vorsprechen auf der Theaterbühne und ist Katharina, in der nächsten Szene – 4. Jahr, Dezember. – , beim Kofferpacken. Sie hat einen Zwei-Jahres-Vertrag vom Theater Baden-Baden angeboten bekommen, wird als erstes die Hermia im «Sommernachtstraum» spielen. «Am 12. Februar ist Premiere.» Mit diesem Zitat Katharinas, mit diesem Ausblick, schliesst der Kommentar. Katharina wendet sich vom Koffer ab, setzt sich aufs Sofa, spricht, im Dialekt, zur Kamera und damit zu Urs Graf, der, wenn auch nicht im Bild, wieder als Partner spürbar präsent ist. Katharina spricht vom Weggehen. «… ich habe Ängste, und ich habe Wünsche, und ich habe Erwartungen und Hoffnungen …, aber … das gehört jetzt mir, das nehme ich mit, das wird sich dort austragen. Da hört es auf. Irgendwie.» «Danke», sagt Urs Graf aus dem Off. Ein einziges Mal, hier, hören wir die Stimme des Autors und beziehen das Danke auf die ganze Dauer einer Zusammenarbeit, die in dreieinhalb Jahre Leben hineingewirkt hat.

Der Dank ist Respekt, ist Einverständnis in einem Augenblick, der Ankommen und Aufbruch ist. Für Katharina, für den Autor. Ein Abschied, den die letzte Film-Sequenz, ohne ein gesprochenes Wort (wie die erste Aufnahme mit Kathrin, jetzt aber ohne Kommentar) aufnimmt, weiterführt. Katharina steigt in den Zug, winkt durch das Fenster. Die Musik setzt ein, das Bild ist schon am Abblenden ins Schwarz, das sich durch den Film hindurch zieht. Das Schwarz ist nicht nur Zäsur zwischen den Szenen, sondern so, vom Anfang herkommend, ins Filmende gehend, ein eigener Strang. Wieder scheint daraus der Titel auf. Die Zeit mit Katharina. Im dritten Ausbildungsjahr hatte Kathrin begonnen, sich mit vollem Namen zu nennen.

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Ein Weg, ein Unterwegs-Sein

Die im letzten Bild einsetzende Bratschen-Musik, von Alfred Zimmerlin für den Film komponiert, umspielt den Schlusstitel, trägt weiter bis über die letzte Abspannzeile hinaus, hat, wie zu Beginn, jetzt aber länger, den Raum für sich. Sie kann ausspielen, was sie während des Films hat anklingen lassen. Urs Graf: «Für mich ist Musik etwas Körperliches, etwas, wodurch sich eine andere Betrachtungsweise ergibt – zum Beispiel, indem sie den Originalton zurückdrängt und manchmal so erst den Raum schafft, in dem ein Text möglich ist. Ich würde mich vielleicht nicht getrauen, in den Originalton hineinzusprechen, die Musik aber kann zuerst eine Distanz schaffen. – Die Musik wirkt an der Struktur mit. Da sind die Klänge, die das Schwarz zwischen den Einstellungen verlängern. Die Musik leitet die Abblendung ein und klingt in das nächste Bild hinüber. Es ist ein Verstärken der Brüche, ein Verstärken dessen, was zwischen den Aufnahmen, während dieser halben Sekunde Schwarz, fehlt. Aber auch diese einzelnen Klänge haben im Gesamtzusammenhang des Films eine musikalische Konsequenz, haben teil an einer Entwicklung. – Die anderen Musiken sind auf eigentlichen Sequenzen eingesetzt. Mein Wunsch an Alfred Zimmerlin war: Ich möchte, dass du durch den ganzen Film hindurch, aufgrund der Filmbilder, deine eigene Annäherung an Kathrin machst – ebenso, wie meine Arbeit eine Annäherung an diese Person ist … Es ist wichtig, dass die Musik eine andere Ebene dazu legt, etwas Fremdes.»

Die Musik macht eine offene Struktur noch offener, lässt den Weg, den die junge Frau geht, den der Autor geht, den eigentlich der Film geht, ins Offene münden. «Das Ziel ist …» So zitiert der Kommentar Lehrer und Lehrerinnen der Schauspielschule. Der Film aber ist ein Unterwegs-Sein. Autor und Katharina setzen sich dem, was unterwegs geschieht, aus, reagieren, setzen sich damit auseinander. Urs Graf: «Ich war nie daran interessiert, einen Film über Schauspielausbildung zu machen. Aber ich habe gedacht, wenn mich die Frage interessiert, welche Schritte mir über unsere gesellschaftlichen Rollen und über das uns Selbstverständliche hinaus möglich sind, dann besteht im Schauspielunterricht die Chance, dass Bilder und Töne entstehen … Ich hatte mir auch gesagt, dass jemand, der eine Schauspielschule besucht, nicht Gefahr läuft, vor der Kamera mir zu Gefallen zu sein, sondern ein eigenes Interesse daran hat, sich und seine Rollen zu erkunden und seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.»

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Das Neue, das Unbekannte

«Den gleichen Anspruch habe ich an die filmische Form. Auch sie muss ins Unbekannte gehen und erweitert werden. Die Arbeit ist also das inhaltliche Erkunden, aber gleichzeitig der Versuch, mit Film etwas zu wagen, von dem ich nicht weiss, wie es werden wird.» Urs Graf verweist auf frühere Filme, auf Kollegen (1979), Wege und Mauern (1982), auf Seriat (mit Marlies Graf Dätwyler, 1991), verweist auf seine eigenen Auseinandersetzungen mit den dort gewählten dokumentarischen Methoden – in Aufsätzen, Kursen, Vorlesungen. Zentral die Problematik der oft mit Spontaneität verwechselten Selbstdarstellung einer Person, die vorgibt, die Kamera zu ignorieren. «Offensichtlich ist es doch sehr fragwürdig, wenn in meinem Film Wege und Mauern eine unsichtbar bleibende Filmequipe von drei Personen in einer kleinen Gefängniszelle anwesend ist, um die nächtliche Einsamkeit eines Gefangenen aufzunehmen.» (Urs Graf: Ästhetik ist nicht wertfrei. In: «Cinema» 39, 1993, Seite 16f.) Auch in Seriat gibt es vergleichbare Szenen, gibt es aber auch das andere, wenn Idris zu Beginn des Films zur Kamera spricht. Urs Graf: «Es sind die wahrsten, unverfälschten Szenen, wenn jemand nicht so tut, als seien wir nicht anwesend.»

Seriat – zwei Filme in einem Film über Muslime in der Schweiz, der eine mit den Frauen der Familie Tütüncü von Marlies Graf Dätwyler gedreht, der andere mit den Männern von Urs Graf – war ein Extrem, sagt Urs Graf, «wenn ich denke, dass in allen meinen Filmen Männer im Zentrum gestanden haben», und war Voraussetzung für das, was Die Zeit mit Kathrin ausmacht. «Zwar war auch in Seriat der eigene Standpunkt thematisiert, aber es ging mir jetzt darum, den männlichen Blick zu befragen … Für den Film ist das interessant: Ich als Mann befasse mich mit dem anderen, der Frau. Auch Kathrin, die im Bild ist, befasst sich mit dem anderen, dem Fremden, dem, was sie noch nicht ist. Und das andere ist in ihrem Fall auch die Frau.»

Der Film macht das Thema

«Kathrin und ich, wir haben ein gemeinsames Thema.» Jede Einstellung – nicht nur das Reagieren, das Sich-Äussern im Kommentar – macht diese Gemeinsamkeit erkennbar. Der Autor ist anwesend, die Kamera-Arbeit so organisiert, dass Urs Graf, auch wenn nicht er die Kamera führt, der Blickpartner ist, und immer die klare Situation: «Wir filmen. Du bist dem ausgesetzt. Du kannst so sein, wie du dich fühlst.» Das macht auch die Bilder klar. «Im Idealfall ist jede Einstellung ein kleiner Film, der für sich allein stehen könnte, der aus sich heraus Sinn macht – also keine Einstellung im Film, die erst in einem Montagezusammenhang Sinn machen würde.» («Cinema» 39, Seite 12)

Die Bilder stehen für sich in einer Struktur, die Zusammenhänge geschehen lässt, aber nicht erzwingt. Und die mit Rhythmus und Zeitorganisation zu überraschen weiss. Bilder, Töne, Sprache, Texte, Fragmente eines ereignisreichen Ganzen klingen auf, klingen ab, immer in Augenblicken intensiver Aufmerksamkeit. Jede Szene, jeder Textteil zieht Spuren.

In den Bildern, im Innern des Films geschieht das Thema. Oder: Was geschieht – in und zwischen den Bildern –, ist das Thema. Nicht nach aussen, nicht in Richtung Zuschauerin, Zuschauer will etwas gezeigt, erklärt, dargelegt werden. Hier ist nicht ein Autor, der mir etwas mitteilen will, sondern ein Autor, der mich teilhaben lässt an seinem Blick, an seiner Recherche, am Beobachten, Zuschauen, Fragen. An einer Begegnung. Wie sehr sie Spiegel für eigene Erfahrung, bekannte oder mögliche, wird und wieviele Wege ich mitgehe, hängt von mir ab.

Das ist das Schöne: Man kann beim Sprechen über den Film bei ihm, in ihm bleiben – in diesem sozusagen unendlich ausweitbaren Assoziationsraum, in dieser lockeren Montage eines dichten Geflechts. Dicht, aber immer klar, durchsichtig.

«Welch langen Weg es braucht, bis man etwas Selbstverständliches macht», sagt Urs Graf über diesen Film und über dreissig Jahre Filmarbeit.

Kathrin sagte – 1. Jahr, November –: «Es braucht schrecklich viel Arbeit, bis man so weit ist, dass man bei Null anfangen kann.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1999 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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