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Key Visual Filmwoche 2023

Viel auf dem Buckel und noch mehr auf dem Kasten

Die Duisburger Filmwoche setzt seit 46 Jahren auf Begegnungen, Diskussionen und gesellschaftliche Relevanz. Dieses Jahr zeigte sich ein neuer, aufregender Trend.

Text: Julia Zutavern / 22. Nov. 2023

Die Duisburger Filmwoche ging 1977 aus den sogenannten Filminformationstagen hervor, die das Duisburger Kino «filmforum» nach dem Vorbild der Solothurner Filmtage veranstaltete. Der Schweizer Filmjahresschau haftete damals ein Touch (Alpen-)Underground an, eine Herbergsstimmung, die man sich auch für Duisburg wünschte. Seither setzt das Dokumentarfilmfestival auf eine einzige Programmschiene mit langen und kürzeren Produktionen – zuerst nur aus (West-)Deutschland, seit 1990 auch aus Österreich und der Schweiz –, ausführliche Filmgespräche in einem separaten Raum im Anschluss an jede Vorstellung und Protokolle, die die diskutierten Positionen dokumentieren (https://protokult.de/). Den Anspruch, den es an seine Filme stellt, versucht es auch selbst zu erfüllen – zugleich informativ und lebendig zu sein, ein Ort des Austauschs und der gemeinsamen Erfahrung. Die Filmwoche fand vom 6. bis 12. November wie immer zusammen mit ihrem Partnerfestival «doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche» im filmforum am Dellplatz statt. Im Wettbewerb waren 23 Filme zu sehen.

Was für die Filmtage Berge, Felder und Bauern, waren für die Filmwoche Bergbau, Stahlwerke und Arbeiter: Dauerbrenner im Festivalprogramm. So gesehen war der ultimative Duisburg-Film dieses Jahr Die richtige Haltung von Ole Steinberg und Jonas Hermanns. Mit einer überwältigenden Fülle an Texten, Bildern, Liedern und Miniaturen fächert der Film die Diskursgeschichte des Bergbaus auf, um darin nach der titelgebenden mehrdeutigen «richtigen Haltung» zu schürfen: der Haltung der (bürgerlichen) historischen Quellen zu ihren «Gegenständen», der Haltung der Arbeiter zu ihrer Arbeit und ihren Arbeitgebern, der Haltung des Körpers zum Kopf und schliesslich des Films zu seinem eigenen Unterfangen. Nicht jedes Verhältnis trat dabei deutlich zu Tage, aber ein Bild blieb hängen: der «Buckelkasten», ein mit Lederriemen auf den Rücken zu schnallendes Miniaturbergwerk, das invalide Bergarbeiter selbst anfertigten und betrieben, um sich über Wasser zu halten.

Die richtige Haltung

Detailreich geschnitzte Holzfiguren verrichten im Rhythmus des Klackern der Drähte und Stifte ihre Arbeit. In den unteren Etagen wird gehämmert, gepickelt und geschleppt, in den oberen salutiert, geschrieben und gelesen. Als kunstvoller Ausdruck der eigenen Erfahrungswelt mit den Mitteln dieser Welt und einzige Selbstdarstellung stellt das Buckelbergwerk alle anderen Quellen des Films in den Schatten. Es wertet den Bergarbeiter indirekt zum Subjekt auf, das sich keineswegs auf seine Arbeit oder seinen Gehorsam reduzieren lässt, wie die zitierten bürgerlichen Stimmen nahelegen, wenn sie in jedem Buckel gleich einen Bückling sehen.

Der Buckelkasten durchkreuzt (vermutlich unbeabsichtigt) den Argumentationszusammenhang des Films, er lässt die darin mit einigem Aufwand inszenierte alte These von der Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Kopf und Buckel (ein fiktiver Chor gibt den Wirbeln eines Bergarbeiters eine kollektive Stimme, um die Ausbeutung der Wirbelsäule durch den Arbeiterkopf zu thematisieren) mehr als fragwürdig erscheinen. Gleichzeitig nimmt er Stellung zur titelgebenden Frage: Die richtige Haltung wäre, flüstert uns der Buckelkasten in seiner ganzen Pracht gedanklich zu, den Arbeitern zuzugestehen, selbst am besten zu wissen, wer sie sind, was sie können und was sie für richtig halten – und sich dann mit ihnen zu solidarisieren.

Vista Mare Julia Gutweniger Florian Kofler

Aus dem Film Vista Mare: Zwei Sonnenschirmnäherinnen bei der Arbeit. Bild: Duisburger Filmwoche

Wie ein Film diese Haltung nicht nur selbst einnehmen, sondern auch von seinen Zuschauer:innen einfordern kann, zeigte der diesjährige Gewinner des Publikumspreises. Vista Mare von Julia Gutweniger und Florian Kofler führt uns ins Betriebssystem des italienischen Strandtourismus. Wir sehen Sonnenschirmnäherinnen, Hotelköche, eine Wasserrutschbahnaufsichtsperson, einen Tontechniker, eine Animateurtrainerin oder einen Werbeflugzeugpiloten bei der Arbeit. Jeder Handgriff sitzt, alle tragen ihren Teil zum erstaunlich reibungslosen Ablauf der gigantischen Urlaubsmaschinerie zu. Schauplatz und Kameraeinstellung werden zur Aufforderung, Arbeit einmal horizontal, gewissermassen vom Meer aus zu betrachten. Ganz ohne Interviews oder Voice-over, allein durch den konsequenten Fokus auf die normalerweise unsichtbare oder übersehene Arbeit hinter der Urlaubskulisse unterläuft der Film die Hierarchien unserer Wahrnehmung. Die Solidarität mit den Saisonarbeiter:innen und ihrem auch im Film gezeigten Kampf um bessere Arbeitsbedingungen – das ist die plausible These des Films – beginnt genau da: In der Anerkennung und Aufwertung ihrer Arbeit.

Grenzen der Empathie

Auch Einzeltäter, die mit dem 3sat-Preis ausgezeichnete Trilogie von Julian Vogel über die rechtsterroristischen Anschläge in München (2016), Halle (2019) und Hanau (2020), ist ein Buckelkasten von einem Filmprojekt. Der Film begleitet die Angehörigen der Opfer in ihrer Trauer und ihrem Kampf um die richtige Einordnung der eindeutig rassistisch und antisemitisch motivierten Taten. Im Gegensatz zur Behauptung von Behörden und Medien waren die Täter alles andere als «Einzeltäter» oder (in einem Fall) gar «Amokläufer», sondern nachweislich Mitglieder neofaschistischer Netzwerke. Mit berührend echt wirkenden Szenen der Trauer beharrt der Film auf unser Mitgefühl und verweist im Kontrast zur Ignoranz und Scheinheiligkeit der öffentlichen Anteilnahme auf die emotionale Komponente strukturellen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Wie kein anderer Film im Programm zeigt Einzeltäter, wie weitreichend die Folgerungen der Buckelkasten-Einsicht sind: Wenn Kopf und Körper, Verstand und Gefühl nicht mehr getrennt voneinander zu betrachten sind, wenn man davon ausgehen muss (wofür es nicht nur philosophische, sondern auch neurowissenschaftliche Argumente gibt), dass es Gefühle und Erfahrungen sind, die unser Denken bestimmen, muss Politik in erster Linie als ein (auch von unbewussten) Interessen gesteuertes Emotionsmanagement verstanden werden. Oder anders ausgedrückt: Gefühle sind dann kein Störfaktor der Demokratie, sondern deren Währung. Genau das scheint Vogel verstanden zu haben und für sein Anliegen zu nutzen. Am Beispiel des aktuellen emotionalen Missmanagements vonseiten der Politik, der Medien und der Behörden im Umgang mit Menschen anderer Herkunft, Religion oder Klasse legt er die ungleiche Verteilung von Empathie frei. Gleichzeitig arbeitet er gegen sie an, indem er bei uns jene Anteilnahme erzeugt, um die seine Protagonist:innen kämpfen.

Einzeltaeter Hanau

Angehörige der drei Attentate stehen in Einzeltäter im Mittelpunkt. Bild: Duisburger Filmwoche

Eine Szene im zweiten Teil «Halle» wird zur Nagelprobe dieser Strategie, wenn sich der einzige betroffene Vater ohne Migrationshintergrund selbst fremdenfeindlich und antisemitisch äussert. In der Diskussion nach dem Film zeigten sich viele irritiert: Verspielt er damit nicht sein Recht auf Empathie? Verhöhnt er nicht die anderen Opfer? Tatsächlich stellt sich die Frage, wo die Grenzen der Empathie verlaufen. Der Film zieht sie bei den Tätern, nicht aber beim erwähnten Vater. Man kann das problematisch finden, im Hinblick auf die aufklärerische Intention des Projekts erscheint es aber folgerichtig, sind es doch gerade auch Menschen wie dieser Vater, die der Film zum Umdenken durch «Umfühlen» bewegen will. Der Vater sass in Duisburg selbst im Publikum und äusserte sich nach dem Film geläutert – wie zum Beweis, dass die Strategie aufgeht.

Eiertanz um Geschichte

Auch in Zimmerwald von Valeria Stucki, einer der beiden Schweizer Beiträge im Programm, geht es um Anerkennungs- und Deutungsprozesse. Eine Schulklasse erfährt im Unterricht, dass ihr Dorf so etwas wie das Bethlehem des Kommunismus war (und noch immer sein könnte): Schauplatz einer 1915 veranstalteten, als Ornithologen-Treffen getarnten, folgenreichen Konferenz sozialistischer Kriegsgegner:innen, an der auch Lenin und Trotzki teilnahmen. Viele Fragen drängen sich auf, denen die Kinder nachgehen: Wie lief das ab? Wer war dabei? Und vor allem: Warum haben wir nichts davon gewusst?

Bildung, erst recht Schulbildung, ist der Rationalität verpflichtet. Zimmerwald zeigt, wie ein Unterricht aussehen kann, der Kinder (und mit ihnen die Zuschauer:innen) erfahren lässt, wie Rationalität, Politik und Emotionen zusammenhängen, wie sehr das, was wir für unsere Identität und Geschichte halten, Zuschreibungs- und Deutungsprozessen unterliegt, die von Werten, Normen, Interessen, Erfahrungen und Emotionen geleitet werden. Welche Ermächtigung in dieser Erkenntnis liegt, merkt man den Kindern bei ihrer Recherche an.

Zimmerwald ist eine Art Realanimation – der Film initiiert die Prozesse, die er dokumentiert und zwischendurch auch suggeriert. Dass er dadurch konstruiert und didaktisch wirkt, versteht sich von selbst. Viel bemerkenswerter ist, dass es Stucki trotzdem gelingt, ihrem «Unterricht» jede Menge Komik abzugewinnen. Wie der Film den Eiertanz vorführt, mit dem die Zimmerwalder:innen freundlich versuchen, auf das Anliegen der vorbildlich geschichtsinteressierten Kinder einzugehen, ohne dadurch irgendwelche Versäumnisse oder Fehler einzugestehen – ob eigene oder die ihrer Vorfahren –, hat Slapstickqualität. Und ist auch ein treffendes Bild für den, vorsichtig ausgedrückt, traditionell selektiven Umgang der Schweiz mit der eigenen Geschichte.

Wenn das Feuer brennt

Der andere Schweizer Beitrag, Füür Brännt von Michael Karrer (CH 2023), ist ein auf dokumentarischen Beobachtungen und Improvisation beruhender Querschnittfilm über Menschen im Sommer in Zürich. Kleine Jungs spielen im Hof einer Sozialsiedlung, eine Gruppe Jugendlicher grillt und badet am Fluss, und mehrere Erwachsene veranstalten ein Gartengrillfest. Szenen des Alltags in langen Tableaus: Es wird geschmatzt, gegrölt und gelacht. Der Inhalt der Gespräche – sofern sich aus dem Durcheinander aus Satzfetzen überhaupt eines ausmachen lässt – erscheint zweitranging. Der Film hat eine andere Dynamik im Blick: Die zunehmende Enthemmung seiner Protagonist:innen.

Fueuer Braennt Michael Karrer

Ein Ausschnitt aus Füür Brännt: Eine Gruppe Freunde an der Limmat. Bild: Duisburger Filmwoche

Je länger der Abend, desto brüchiger die routinierte Freizeitperformance: Lallen, zanken, jammern, immer mehr Körperkontakt. Das von Anfang an spürbare Bedürfnis nach Gesellschaft und Bestätigung schlägt in Selbstmitleid oder Erregung um. Alle verlieren leicht die Kontrolle, niemand verliert sie ganz.

Was will uns das sagen? Wo liegt die Relevanz? In der Diskussion reagierten manche Zuschauer:innen gereizt. Auch Füür Brännt wird vielleicht erst unter gefühlspolitischer Perspektive interessant: Der Film rückt unsere Bedürfnisse nach Nähe und Ungezwungenheit in den Fokus und zeigt, wie verdammt schwer sie zu stillen sind – unabhängig von Altersgruppen, Klassen oder Milieus. Oder «politischer» ausgedrückt: Er untersucht, wie es um den emotionalen Wohlstand in der Schweiz bestellt ist und scheint ein eher ernüchterndes Fazit zu ziehen. Das provoziert auch deshalb, weil wir gelernt haben, unsere Gefühle nicht so wichtig zu nehmen.

Bisher Unverbundenes zusammen sehen

Aber Gefühle sind wichtig und politisch, Koordinaten unserer Wahrnehmung und unseres Denkens. Diese Erkenntnis zog sich durch das dieses Jahr insgesamt sehr dichte und vielseitige Festivalprogramm. Nach Filmen wie den besprochenen, die diese Koordinaten zumindest bei mir (beabsichtigt oder nicht) verschoben haben, kann tatsächlich der Eindruck entstehen, man habe sich «im Geradeaus verlaufen», wie das diesjährige Motto versprach. Das gemeinsame Prinzip der Filme, «bisher Unverbundenes zusammen zu sehen» (Körper und Geist, Arbeit und Urlaub, Dorf- und Weltgeschichte, Gefühle und Politik etc.), um so «Gegenwart auch anders denkbar» werden zu lassen (Festivalleiter Alexander Scholz), ging auf.

Der Saal war oft voll, richtige Kontroversen gab es dieses Jahr allerdings nicht. In den Gesprächen kam immer wieder die alte Frage auf, wie viel Inszenierung, wie viel «Fake» denn erlaubt sei, so als spuke noch immer Klaus Kreimeiers und Klaus Wildenhahns «Formenstreit» von 1979 (Eingreifen vs. Beobachten) durch den Saal. Dabei stellten Filmprogramm und Motto, wie ich zu zeigen versucht habe, einen viel aufregenderen Dualismus zur Diskussion: zwischen Filmen, die die Verwobenheit von Denken und Fühlen, Rationalität und Emotionen politisch begreifen und reflektieren, und jenen, die auf deren strikter Trennung beharren.

Die Duisburger Filmwoche ist eindeutig was für Liebhaber:innen verkopfter Filme und Diskussionen. Daran wird auch kein radikaler emotional turn etwas ändern. Muss er aber auch nicht. Gleich um die Ecke vom filmforum gibt es eine legendäre kleine Kneipe. Darin kann man sich jeden Abend den Kopf wieder freitrinken, Körperkontakt garantiert.

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